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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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lächelte und sah wieder in seinen Hefter. Petersens Hemdsärmel war ein Stück über den Handrücken gerutscht. Die Fingernägel trommelten einen schnellen Rhythmus auf die Bank und setzten nach seinem »Dann ist ja gut« einen Schlußpunkt.
    Sportstunde. Titus streifte sein altes Dreß über. Martins Klasse kam verspätet in die Umkleideräume im Keller. Mario und Peter Ullrich wärmten sich draußen bereits auf. Joachim lehnte in seiner ausgebeulten Trainingshose am Torpfosten.
    Kampen, der Sportlehrer, der mit seinem grauen Haarschopf wie ein schneebestäubter Dean Read in »Alaska-Kid« aussah,jonglierte mit dem Fußball. Nach dem Dreitausendmeterlauf würden ihnen zwanzig Minuten fürs Spiel bleiben.
    Etwas verspätet gingen sie hinüber in den Volkspark. Die Aufwärmrunde liefen Martin und Titus als letzte. Niemand nahm den Kniehebelauf und die Fußgelenk- und Dehnübungen so ernst wie sie. Bernadette, sagte Martin, sei krank. Am Sonntag habe sie fast vierzig Fieber gehabt.
    Kampen wartete vor dem kleinen Anstieg und wiederholte, für welche Zeiten es welche Noten geben würde. Danach preschte die Herde in einem unsinnigen Tempo los. Titus ließ Martin den Vortritt und legte so die ersten zweihundert Meter als letzter zurück. Erst an der Eiche, an der sie kehrtmachten, um dann auf die lange Zielgerade zu kommen, ließen sie die ersten hinter sich. Am Start überholten sie Joachim. Kampen rief Titus zu, an Martins Fersen zu bleiben. »Jag ihn!« Mit kurzen schnellen Schritten nahmen sie den Anstieg, ohne langsamer zu werden.
    Titus glaubte, unendlich lange hinter Martin Böhme herlaufen zu können, hinter ihm, seinem wippenden Haar und dem Shampoo-Duft. Titus genoß die Mühelosigkeit, mit der sie an den anderen vorbeizogen. Nach drei Runden hatten sie nur noch Peter Ullrich und Mario vor sich. Doch Peter Ullrich würde sich bald wie eine Gurke nach vorn krümmen, und Mario würde wegen seiner Gelenke aufgeben. In der vierten Runde überholten sie beide, und in der fünften überrundeten sie Joachim.
    »Jag ihn!« rief Kampen. Titus war glücklich. Er würde sich nicht abschütteln lassen, eher würde er sich zerreißen. Jetzt verstand er besser, was der Satz hieß: Dynamo könnte es noch gegen Liverpool schaffen, aber dafür müßte sich jeder einzelne Spieler zerreißen. Zerreißen und dranbleiben. Immer mehr Schüler und Lehrer säumten die Rennstrecke. Noch zwei Runden, keine achthundert Meter mehr. Er würde dranbleiben, er würde jedes Tempo mitgehen. Sie überrundeten weiter, wie Pfeile schossensie vorbei. Titus kannte jeden Meter, wußte, wie die Schritte in den Kurven zu setzen waren und daß es an der Eiche mehr brachte, einen etwas größeren Bogen zu laufen, aber dafür das Tempo zu halten. Titus hörte den Jubel, sah die Fähnchen und die Leute, die sich über die Absperrung beugten und ihre Namen riefen. Er spürte den Schmerz in der Lunge, aber was hatte der mit ihm zu tun? Seine Beine liefen, sie waren nicht aufzuhalten. Martin Böhme konnte rennen, wie er wollte, ihn, Titus, würde er nicht loswerden. Als sie sich zum letzten Mal Kampen näherten, waren sie bereits Helden, Martin Böhme und er. Titus sah die aufgerissenen Münder und Augen und wäre Martin Böhme an der Eiche fast in den Rücken gerannt. Titus brauchte nicht mehr zu atmen, das behinderte ihn nur. Es waren Rücken vor ihm, mehrere Rücken, er sah Kampen, das staunende Gesicht Kampens, und hörte, wie Bernadette seinen Namen rief, nicht »Martin« rief sie, sondern »Titus! Titus!«.
    Plötzlich war kein Rücken mehr vor ihm, und er flog an Kampen vorbei und immer weiter, weil er nicht mehr Herr seiner Beine war, weil sie noch liefen, mit ihm, und er schon die Arme herunternahm und sich umsah und weiterlief und endlich gehen konnte und Kampen neben ihm war und ihm die Uhr vor die Nase hielt und Martin ihm auf den Rücken schlug und gratulierte, Martin, der weiß und rot im Gesicht war.
    Mit Nadelstichen kehrte sein Atem zurück. Statt einer Lunge steckte eine Röhre in ihm, ein altes Wasserrohr, der ganze Mund war rostig, er roch es sogar. Er wollte es anhalten, das Atmen anhalten, sich anhalten, aber seine Beine gingen weiter, mal nach rechts, mal nach links, er torkelte, und Kampen rief: »Weiterlaufen, Jungs, weiterlaufen!« Und Martin sagte: »Völlig ausgerußt.«
    Titus sah die Mädchen kommen, näher springende Farbflecken, sie überquerten die Straße, dieselben Stimmen, die die Strecke gesäumt hatten. Sie sahen ihn an.

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