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Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
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zu gehen. Die Kiefern standen nicht dicht. Die Zweige und Äste unter seinen Stiefeln knackten selten, die meisten drückte er lautlos in das von Nadeln übersäte Moos. Er erkannte die hellen Stellen anden Stämmen, die von den SPW s geschrammt worden waren, bis jedes Fahrzeug seinen Platz gefunden hatte, diese dösenden Reptilien, von denen einige, als träumten sie lebhaft, ihre Motoren laufen ließen.
    Das Sperrgebiet war gut für den Wald. Hierher kam kein Förster oder Holzfäller, erst recht kein Pilzsucher. Hier gab es nichts als das langsame Werden und Vergehen, hier keimten die Bäume, sie wuchsen und lebten ihre Jahrzehnte oder vielleicht auch ein ganzes Jahrhundert und gingen wieder zugrunde, wenn ihre Zeit vorüber war. Dann rissen sie andere mit und schlugen dröhnend auf den Waldboden. Ihnen folgte das Sonnenlicht und erweckte das Unterholz, ließ Farne und Buschwerk gedeihen, tausenderlei Unkraut, bis der Schnee alles begrub und ein paar Flechten und Moose auf dem zerfallenden Holz die einzigen Farbflecken blieben. Alles förderte die Fäulnis, alles war nur dazu da, das Leben der modrigen Erdoberfläche in Gang zu halten, den Humus allen Seins. Selbst die Stille hier schien alt und undurchdringlich, und die Luft satt von Düften, an denen der Windhauch immer wieder wie an einem schweren Vorhang ermattete.
    Der Gefreite Türmer war schon ein gutes Stück gelaufen, als ihm schwindlig wurde, mit einer Hand an einen Stamm gestützt, ruhte er aus, als hätte er sich überanstrengt. Er hatte Hunger. Vor allem aber war er durstig. Der Gefreite Türmer atmete durch den Mund. Doch ein verborgenes Kraut, dessen Namen er nicht kannte, erfrischte ihn und trieb ihn weiter auf seinem Pfad, der nicht von Menschen angelegt war, sondern vom Wald selbst. Die Tiere und die Launen der Vegetation führten ihn voran, wenn er nur die ihm gegebenen Winke verstand. Ihm gefiel es, sich in der Nacht zwischen den Bäumen zurechtzufinden. Erst im Dunkeln erwacht der Körper tatsächlich, erst da vertraut er dem Wissen, das in seinen Gliedern steckt.
    Der Gefreite Türmer verfiel in einen leichten Dauerlauf, wobei er Arme und Schultern in der Art eines Slalomläufers bewegte. Ihm war anzusehen, wieviel Freude ihm das machte.
    Gegen das erste Morgengrauen zeichneten sich die abgestorbenen Äste der Kiefern wie Schlangen ab, manche jedoch liefen nicht spitz zu, sondern waren zerspellt, so daß ihre Enden Fledermäusen glichen oder den Fratzen gotischer Wasserspeier. Schneller und schneller lief er, wandte den Kopf, duckte sich, wich in der Manier eines Boxers den Zweigen aus – manche trafen ihn dennoch, peitschten ihn wach, trieben ihn an. Mehrmals hatte er schon geglaubt, eine Lichtung erreicht zu haben, aber dann war es nur der Beginn einer Schonung gewesen oder ein Weiher. Die Stiefelschäfte schlugen gleichmäßig gegen Schienbein und Wade – schluppschlupp, schluppschlupp. Er hörte Vögel. Eben war es noch still und dunkel gewesen und er das einzige schlaflose Wesen. Nun schien der ganze Wald erwacht zu sein.
    In den Eingeweiden spürte der Gefreite Türmer Nadelstiche. Nur noch ein paar Schritte, und er erreichte ein weites, schier endloses Feld. Er trat aus dem Wald heraus, warf die Wattejacke ab, streifte die Hosenträger von den Schultern, riß sich die Hosen herunter und hockte sich hin. Einmal stöhnte er vor Schmerz, dann kam es aus ihm heraus. Er versuchte sich zu erinnern, wann er das letzte Mal gekackt hatte. Es war lange her. Der Gefreite Türmer genoß seine Entleerung.
    Wenige Augenblicke später jedoch beunruhigte ihn dieser Vorgang. Er wollte kein Ende nehmen, und es stank bestialisch. Der Gefreite Türmer watschelte vorwärts, weil ihn der eigene Haufen wie ein Tier gestupst hatte. Er sah sich um, als würde ihn die eigene Kacke verfolgen. Nasses Gras streichelte seinen Hintern.
    Der Gefreite Türmer verstand nicht mehr, wie er so eingesperrt,zusammengepfercht und anspruchslos hatte leben können. Die Vorstellung, wieder in den SPW zurückzukehren, ließ ihn schaudern.
    Selbst mit geschlossenen Augen, ganz seiner Nase vertrauend, hätte er sagen können, woraus diese Haufen bestanden. Am schlimmsten roch der letzte, der vom Komplektetag. Aber auch das Gulasch von vor zwei Tagen und das Weißkraut, das mit irgend etwas versetzt gewesen war und nach Auspuff geschmeckt hatte, verpesteten diesen silbergrauen Morgen. Seine Schenkel und Knie schmerzten.
    »Verdammt! Verdammt!« schrie der Gefreite Türmer.

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