Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Neue Leben: Roman (German Edition)

Neue Leben: Roman (German Edition)

Titel: Neue Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingo Schulze
Vom Netzwerk:
In ihren Blicken aberlag keine Bewunderung, es war eher Schauder, Schrecken, Mitleid oder auch nur Unverständnis. Plötzlich stand sie vor ihm, klein, bleich, unauffällig, mit unruhigen Augen. Sie reckte das Kinn über den Kragen ihrer Trainingsjacke, der sie zu behindern schien. »Da«, sagte sie und entfaltete etwas, ein Zellstofftaschentuch. Und da er zögerte, drückte sie ihm das Taschentuch auf die Stirn und die Augen, eine Berührung, die unendlich guttat. Das Taschentuch blieb kleben. Er wischte die Fetzen ab und drehte sich nach ihr um, sah sie aber nicht zwischen den anderen. Den feuchten Klumpen behielt er in der Hand.
    Joachim quälte sich den Anstieg hinauf, die Ellbogen an die Rippen gepreßt, die Knie aneinandergeklebt. Seine Fersen schlenkerten seitlich aus, was Titus als weibisch empfand.
    Später durften Titus und Martin die Mannschaften wählen. Titus begann. Nachdem jeder sieben Namen genannt hatte, wählte Titus Joachim. So blieb Peter Ullrich unter den letzten. Martin verschmähte Peter Ullrich ebenfalls, und Titus zeigte auf einen mit zusammengewachsenen Augenbrauen und riesigen Nasenlöchern. Peter Ullrich ging als letzter an Martin.
    Joachim stellte sich freiwillig ins Tor. »Auf zur Revanche, Martin«, sagte Kampen und pfiff das Spiel an.
    Es war ein schlechtes Spiel. Keiner wollte mehr rennen. Joachim hatte an einer Rückgabe vorbeigetreten, es hatte Eckstoß gegeben, und der war irgendwie ins Tor gegangen. Für die Größe des Feldes waren sie zu viele Spieler und die Tore zu klein. Kurz vor dem Abpfiff sprang der Ball in der Mitte des Spielfelds ein paar Augenblicke herrenlos herum, Titus erreichte ihn als erster und traf ihn so glücklich mit dem Spann, daß der Ball ins Netz flog. Niemand jubelte. »Ein Schuß wie ein Strich«, sagte Kampen und pfiff das Spiel ab.
    Mit dem Klingeln betrat Titus das Klassenzimmer, die Mädchen fehlten. Petersen rief »Freundschaft!« An die Tafel schrieber »Isaac Newton 1643–1727«, warf die Kreide auf den Lehrertisch, steckte die Hände in die Taschen seines Kittels, wippte auf die Zehenspitzen und erzählte nach, was im Lehrbuch über den Begründer der klassischen Mechanik stand. Titus kam es so vor, als bestünde sein gesamtes Wissen allein aus dem, was Petersen gerade erzählte, als wäre Newton der erste Mensch, über den er sich etwas merken würde. Er war von seinem Tor noch wie benommen. Wie oft hatte Titus von solch einem Schuß geträumt – ein Schuß wie ein Strich.
    Als sich die Tür zum ersten Mal öffnete und ein paar Mädchen mit hochroten Gesichtern hereinkamen, reagierte Petersen nicht. Den zweiten Pulk starrte Petersen stumm und finster an, bis die Mädchen auf ihren Plätzen saßen. Beim dritten Mal rief er, daß er sich das nicht länger bieten lasse, jeden Montag dasselbe!
    Martina Bachmann, die als letzte hereingeschlüpft kam, wollte gerade beginnen, sich zu entschuldigen. Petersen winkte sie ungeduldig nach vorn – »Kommen Sie, kommen Sie, kommen Sie!« – und überreichte ihr das Stück Kreide wie eine Blume. »Da, machen Sie weiter, machen Sie weiter!« Petersen setzte sich auf die freie Bank vorne links und ließ seinen Unterschenkel baumeln. Immer mehr Mädchen rechtfertigten sich. Martina Bachmann durfte sich setzen.
    Als Titus wieder aufsah, schrieb Petersen F = m · g und dann G = m · g an die Tafel. Titus versuchte sich einzuprägen, daß Masse und Gewichtskraft eines Körpers unterschiedliche Größen sind und die Gewichtskraft nicht in einer Einheit der Masse gemessen werden darf. »Die Gewichtskraft eines Körpers«, sagte Joachim, »ist die Kraft, mit der er senkrecht nach unten auf eine Unterlage drückt oder an einer Aufhängung zieht, also Masse mal Fallbeschleunigung. Also, g ist gleich neun Komma einundachtzig Meter durch Sekunde hoch zwei und wird in Newtonoder Kilopond gemessen.« Petersen nickte, vergewisserte sich, daß das Buch vor Joachim zugeschlagen war, und sagte, daß sie nun zum Trägheitsgesetz kämen. Er schrieb ein paar Gleichungen an die Tafel. Titus wunderte sich, wie ruhig er war, als wäre das eine Stunde wie jede andere, in der er schlimmstenfalls eine schlechte Note bekommen würde, bevor es wieder klingelte. Vielleicht hatte Petersen die ganze Sache bereits vergessen.
    »Wirkt auf einen Körper keine Kraft, so behält er seine Geschwindigkeit bei«, schrieb Petersen an die Tafel und umrahmte es. Während Titus überlegte, was das für ihn bedeutete, zeichnete Petersen schon ein

Weitere Kostenlose Bücher