Neukölln ist überall (German Edition)
Der Grenzwert liegt in Berlin für einen Erwachsenen bei 766 Euro Nettoeinkommen pro Monat. Für alle weiteren Haushaltsmitglieder über 13 Jahre wird die Hälfte dieses Betrages hinzugerechnet und für die Jüngeren 30 %. Bei der Bevölkerung mit Migrationshintergrund gehen wir in Nord-Neukölln von etwa 60 % aus, die – wenn man ihre offiziellen Einkünfte zugrunde legt – dieses Kriterium erfüllen. Schnell liest sich über diesen Satz hinweg. Er spricht eine deutlichere Sprache, wenn man sich vor Augen hält, dass in Nord-Neukölln der Anteil der Kinder unter 15 Jahren, die im Hartz- IV -Bezug stehen, entgegen dem Berliner Trend kontinuierlich steigt und mit 67 % fast doppelt so hoch wie im Berliner Durchschnitt ist. In einzelnen Wohngebieten im Norden hat dieser Wert bereits 75 % erreicht. Das heißt, für drei von vier Kindern ist es völlig normal, dass die eigenen Lebensverhältnisse und die Geldleistungen des Staates in einer unmittelbaren Wechselbeziehung stehen. Dies muss Auswirkungen auf ihre spätere Einstellung zur Eigenverantwortlichkeit und zu ihren Lebensperspektiven haben.
Wie bereits erwähnt, muss die Sozialisation der Kinder in einer permanenten Empfängersituation staatlicher Alimentation eine Erwartungshaltung prägen, die jeglichen Willen zur eigenen Leistungsbereitschaft überlagert. Da das Sozialsystem natürlich nicht die gesamte Palette der Konsumwünsche abdeckt und auch nicht abdecken kann, entsteht im Vergleich zu anderen Menschen in komfortableren Lebensverhältnissen ein permanentes Gefühl der Benachteiligung. In wessen Lebenskompass der Wunsch, auf eigenen Füßen zu stehen und unabhängig zu sein, durch den gesellschaftlichen Schnuller ersetzt ist, dem wird vermutlich auch auf Dauer ein Selbstwertgefühl mit Zufriedenheit und Stolz vorenthalten bleiben.
Allerdings ist der Armutsbegriff mit großer Vorsicht zu betrachten. Auf meine Frage: »Wie vielen Ihrer Hartz- IV -Eltern, denken Sie, steht das Wasser bis Oberkante Unterlippe, wie viele sind also wirklich arm?«, habe ich mehrfach die Antwort von Schul- und Kindertagesstättenleitungen erhalten: »Etwa ein Drittel.« Ohne dass es dafür offizielle Erhebungen oder Statistiken geben kann, ist es trotzdem völlig unstreitig, dass es eigene Beziehungsgeflechte und auch einen eigenen Arbeitsmarkt in der informellen ethnischen Wirtschaft gibt. Die offiziellen Einkünfte können niemals die einzigen Erwerbsquellen vieler Familien sein. Dies müsste zu einer Vielzahl an freien Parkplätzen in Neukölln führen, die allerdings so noch nicht geortet wurden, und steht ferner im krassen Widerspruch zur Unterhaltungselektronik der Kinder oder den Kraftfahrzeugen, mit denen die Kinder zur Schule gebracht werden. Die Erfahrungswelt wird immer dann bereichert, wenn man persönlich in einen Fall involviert wird. Auch Erzieher und Lehrer können über beeindruckende Einblicke in den Lebensstandard nomineller Hartz- IV -Familien zum Thema Fahrzeugpark oder Gewerbebetriebe berichten. Immer wieder wird die Frage diskutiert, wie die Eltern es trotz Sozialtransfer zu mehreren Geschäften bringen können oder wie junge, arbeitslose Männer zu Autos der 100 000-Euro-Klasse kommen. Der Fall eines Imams in Köln im Frühjahr 2012 zeigte beeindruckend, dass ein starkes Netzwerk auch einem Hartz- IV -Bezieher ein Leben mit Häuschen, Garten und Mercedes ermöglichen kann.
Doch das Eis ist manchmal dünn. Wenn zum Beispiel das Krankengeld nicht so fließt, wie man es sich nach einem Schicksalsschlag vorstellt, weil nur die offiziellen Verdienste zur Grundlage genommen werden; wenn es Streitereien um versprochenen, aber nicht gezahlten Lohn gibt; oder wenn kleine Freundschaftsdienste nicht die erwartete pekuniäre Auslösung finden. Das System Entlohnung nach BAT (Bar auf Tatze) ist hier weit verbreitet. Es sind auch nicht der übliche Schmu und die Kleinbetrügerei, mit denen Menschen in prekären Lebenssituationen versuchen, ein paar Scheinchen an den Behörden vorbei zu generieren. Nein, es ist ein System.
Abgaben an den Staat werden als absolut entbehrlich eingestuft (menschlich nachvollziehbar), aber dann auch planmäßig professionell unterlaufen. Es fehlt in diesen Kreisen jedwede Einsicht in das Solidarsystem der Gemeinschaft oder in den Grundsatz »Gib dem Kaiser, was des Kaisers ist«. Einen Krankenschein bekommt man doch auch vom Jobcenter. Warum soll man dann noch Krankenversicherungsbeiträge vom Nebenverdienst abführen? Ein
Weitere Kostenlose Bücher