Neukölln ist überall (German Edition)
Arbeitslosigkeit schon länger besteht. Die Masse bezieht also steuerfinanziertes Hartz IV . Das »Arbeitslosengeld II «, wie es korrekt heißt, hat die frühere Arbeitslosen- bzw. Sozialhilfe abgelöst.
Mit der Einführung von Hartz IV hat sich die Zahl der Menschen mit Transfereinkommen – im Jargon auch Stütze oder Sozialknatter genannt – erheblich ausgeweitet. Betreute das Neuköllner Sozialamt früher rund 50 000 Kunden, so sind es im Jobcenter konstant rund 80 000. Interessant ist, dass konjunkturelle Schwankungen nur einen geringen Einfluss auf den Kundenstamm des Jobcenters haben. Nach meinen Beobachtungen beträgt die Bandbreite der Zu- und Abgänge maximal 5 %. Jeweils im Juni von 2007 bis 2012 belief sich die Gesamtzahl zwischen 77 400 als unterstem Wert und 80 950 im oberen Bereich. Die Zahl der unter 25-Jährigen beträgt nach gleichem Schema 31 730 bis 33 200. Die Zahl der erwerbsfähigen Hilfeempfänger variiert von 56 200 bis 58 200. Dennoch handelt es sich nicht um statische Akten. Innerhalb eines Jahres integriert das Jobcenter 11 000 Kunden in den Arbeitsmarkt oder in Maßnahmen. Der sogenannte Drehtüreffekt muss also eine enorme Bedeutung haben. Nach Angaben des Neuköllner Jobcenters befinden sich fast 60 % aller in den Arbeitsmarkt Vermittelten schon nach sechs Monaten wieder im Leistungsbezug. Diese sehr kurzfristigen Beschäftigungsepisoden hängen mit der Niedrigqualifikation der Hilfeempfänger zusammen. 28 % verfügen über keinen Schulabschluss und 67 % über keine Berufsausbildung. Sie sind natürlich die ersten, die bei betrieblichen Maßnahmen zur Disposition stehen, aber auch mangelndes Durchhaltevermögen und Unstetigkeit spielen eine Rolle.
Es ist davon auszugehen, dass insgesamt 92 000 aller Einwohnerinnen und Einwohner Neuköllns Transferleistungen beziehen. Das ist fast jeder Dritte. Betrachtet man speziell die Empfänger von Hartz IV , beeindruckt der Wert von 130 Bedarfsgemeinschaften auf 1000 Einwohner. Das ist Rang 1 in Deutschland. Zum Vergleich: Die Stadt Essen liegt mit 72 Bedarfsgemeinschaften auf Platz 4. Bei den unter 25-Jährigen beträgt der Anteil der Leistungsempfänger von Hartz IV in Neukölln 41 % (Berlin 28 %). In Nord-Neukölln schätzen wir den Anteil auf ca. 70 %. Im Klartext bedeutet das, dass der Hartz- IV -Bezug unter den jungen Leuten eine völlige Normalität darstellt. Auf die Frage, was sie denn mal werden wollen, antworten manche Kinder schon: »Ich werde Hartzer«, oder: »Warum Ausbildung, es gibt doch Hartz IV ?« Da aber niemand vom Regelsatz protzige Autos mieten, in Hinterzimmern das Geld verzocken oder im Quartier sonst wie auf dicke Hose machen kann, muss es weitere Einkommensmöglichkeiten für die jungen Leute geben. Bezeichnenderweise erklären die Vermittler des Jobcenters, dass etwa 90 % der Kunden unter 25 Jahren ohne Qualifizierungs- und Lebenshilfemaßnahmen objektiv nicht in den Arbeitsmarkt vermittelbar sind.
Insgesamt setzen sich die Leistungsempfänger des Jobcenters sehr heterogen zusammen. Zum einen sind es Menschen mit Handicaps jedweder Art (von Behinderung bis hin zu fehlenden Kompetenzen bei Überschuldung) oder im Lebensalter ab 50 Jahren, die als angeblich nicht mehr voll leistungsfähig vom Arbeitsmarkt aussortiert worden sind. Wie ich finde, eine grauenvolle Fehleinschätzung, denn Lebenserfahrung und langjährige Berufsroutine sind zwei Werte, die man nicht unterschätzen sollte. Ich jedenfalls fühle mich, so betrachtet, altersdiskriminiert. Wer kennt sie nicht, die schneidigen jungen Leute, die einem im Alltag begegnen, manchmal von nichts eine Ahnung haben und völlig hilflos sind, wenn der Computer keine vorgefertigten Antworten auf eine Frage auswirft.
Eine zweite Gruppe sind die Alleinerziehenden. War der Verlust eines Lebenspartners früher ein Schicksalsschlag, so ist »alleinerziehend« inzwischen fast zu einer Lebensphilosophie oder zu einem Label geworden, das man mit einem gefühlten Ausrufezeichen in den Lebenslauf schreibt. In Berlin sind rund ein Drittel aller Mütter oder Väter alleinerziehend. Der Bundesdurchschnitt liegt bei 20 %. Zu diesem Thema möchte ich mich nicht ausbreiten und mich nur auf die Tatsache beschränken, dass 45 % aller Alleinerziehenden vom Sozialsystem komplett oder ergänzend getragen werden. In Gesprächen bin ich immer wieder überrascht, mit welcher Selbstverständlichkeit Menschen davon ausgehen, dass es die
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