Neukölln ist überall (German Edition)
oder Wirtschaftsflüchtlinge oder als Teil einer ganzen Armutswanderung. Ihre Triebfeder war, den heimatlichen Zuständen zu entkommen.
Ich will an zwei Beispielen festmachen, zu welchen unterschiedlichen Auswirkungen diese mentale Divergenz führte. Es handelt sich um zwei Familien, die mir in den letzten Jahren begegnet sind. Die eine Familie war eine klassische Gastarbeiterfamilie. Sie hatte nur ein Ziel: Geld verdienen, es zusammenhalten, um den Kindern den Start in ein besseres Leben zu ermöglichen. Sie wohnte in der Sonnenallee. Am Tage arbeiteten die Eltern in der Fabrik. Daneben versahen sie die Hauswartsstelle, und vor der Arbeit wurden Zeitungen ausgetragen. Bei den Hauswartstätigkeiten, also zum Beispiel beim Treppenputzen, mussten die Kinder mit ran.
Heute wohnen die beiden Alten wieder in ihrem Häuschen in der Nähe von Istanbul. Sie haben die deutsche Kleingärtnermentalität mit in die Türkei zurückgenommen. Die Nachbarn bewundern die bunten Blumen, die immergrünen Gewächse, die völlig unüblich in ihrem Garten blühen, und – nicht zu vergessen – die liederlich herumstehenden Gartenzwerge. Die Tochter ist in der Berliner Verwaltung tätig. Ich glaube, sie bereitet sich gerade auf eine neue Aufgabe als Oberamtsrätin vor. Der Sohn hat seinen Weg in einem großen Metallbetrieb gefunden. Beide haben hier Familien gegründet. Mit Flatrates kann man wunderbar in Verbindung bleiben und dank Billigfliegern sich auch mehrfach im Jahr sehen. Bei ihrem letzten Besuch traf ich die Eltern. Ihre Worte habe ich nicht vergessen: »Herr Bürgermeister, das ist hier nicht mehr unsere Sonnenallee. Hier würden wir heute nicht mehr wohnen wollen.« Man sollte solche spontanen Emotionen nicht überbewerten. Aber ein Zeichen sind sie schon.
Die zweite Familie entstand im Jahre 1990, als eine junge Frau und ein junger Mann als Asylbewerber aus dem Libanon nach Berlin kamen. Sie gründeten hier eine Familie und haben inzwischen zehn Kinder, von denen einige die Schulausbildung bereits beendet haben. Niemand von dieser Familie hat, solange er in Deutschland lebt, auch nur einen einzigen Tag selbst zu seinem Lebensunterhalt etwas beigesteuert. Ich höre förmlich die empörten Rufe, dass das genau die Familien sind, die Unmut erzeugen. Allerdings haben wir zu diesem Werdegang unser gehöriges Maß beigetragen. Über viele Jahre war unsere Gesellschaft nicht in der Lage, den Asylantrag endgültig zu bescheiden. Eine lange Zeit der Duldung war die Folge, in der die Eltern nicht arbeiten durften. Und so hat sich die Familie über zwei Jahrzehnte daran gewöhnt, dass Deutschland ein Land ist, in dem man Geld erhält, ohne dass man dafür eine Gegenleistung erbringen muss.
Ein Staat und eine Gesellschaft müssen klare Konturen haben. Es kann zu den Lebensnormen nur eine Verbindlichkeit geben, nämlich die der geltenden Rechtsordnung. Die Chinesen sagen nicht umsonst: »Du kannst nicht Diener zweier Herren sein.« Unser Gesellschaftssystem ist völlig anders aufgebaut als das der Herkunftsländer vieler Einwanderer. Ein Mischmasch geht nicht. Deshalb funktionieren Parallelgesellschaften nur, solange sie ihre Abschottung aufrechterhalten können: nämlich solange »die Deutschen« ein Schreckgespenst bleiben und man innerhalb der Community den Druck aufrechterhalten kann, sich von den Deutschen, den Ungläubigen, fernzuhalten. Das gelingt nicht immer. Es ziehen Einwandererfamilien aus Neukölln fort, die mir offen sagen: »Herr Bürgermeister, wir halten es hier nicht mehr aus. Wir wollen in Ruhe und Frieden leben. Meine Frau und ich sind es leid, uns im Supermarkt oder auf dem Spielplatz beschimpfen zu lassen, dass wir aus dem und dem Grund schlechte Moslems, schlechte Türken, schlechte Araber oder sonst was sind. Wir wollen auch nicht immer wieder erklären müssen, warum unsere Tochter kein Kopftuch trägt.«
Die vorstehenden Passagen werden dem einen oder anderen nach dem Motto »Der hat ja eine Einwandererphobie« stark übertrieben vorkommen. Nun ja, zu dieser Auffassung kann man gelangen. Insbesondere dann, wenn man fernab ist, keine Verantwortung spürt oder trägt. Wem es egal ist, wie sich die Gemeinschaft und damit der Lebensraum jedes Einzelnen entwickelt, der trifft damit den aktuellen Mainstream. Die Gesellschaft liebt Placebos und Sedierung: Alles wird gut.
Wer wie ich in den beschriebenen Verhältnissen tagtäglich umgehen muss, sieht sie fast schon wieder als Normalität. Dabei gehen selbst mir
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