Neukölln ist überall (German Edition)
natürliche Aufgabe der Gemeinschaft sei, sie zu alimentieren, und ihre Lebens- wie Familienplanung darauf ausrichten. Insbesondere bei Alleinerziehenden ist diese Auffassung recht stark verbreitet. Der Umstand, durch Zeugung und Erziehung der Gemeinschaft ausreichend gedient zu haben, fungiert dabei als unerschütterliche Rechtfertigung, die jeden Zweifel als unmoralisch entrüstet zurückweist.
Eine weitere Gruppe sind die, die den Anforderungen des heutigen Arbeitsmarktes nicht mehr gewachsen sind. Die auch in Neukölln durchaus vorhandene Nachfrage nach Arbeitskräften passt häufig nicht mit dem Qualifikationsniveau der angebotenen Arbeitskräfte zusammen. In großer Zahl sind das angeworbene Arbeitnehmer, die betriebsintern angelernt wurden. Die Betriebe und die Bänder sind fort. Die zurückgebliebenen Arbeitskräfte finden nur selten wieder Anschluss bei anderen Unternehmen oder haben auch inzwischen die Leistungen des Sozialsystems mit Gewöhnungscharakter akzeptiert.
Einen nicht unbeträchtlichen Anteil der Kundschaft bilden ferner diejenigen, die aus sich selbst heraus nicht arbeitsmarktnah sind, wie es in der Sprache der Arbeitsagentur so schön heißt. Früher nannte man sie »Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen«. Da diese Bezeichnung zu diskriminierend erschien, benutzt man heute den Begriff der »komplexen Profillage«. Auf Deutsch meint das nichts anderes als Überschuldung, Suchtprobleme, asoziales Verhalten.
Die verbleibende Gruppe sind die Menschen, die das Sozialsystem bewusst als Eier legende Wollmilchsau betrachten oder, vornehmer formuliert, es als allgemeine Lebensgrundlage für sich angenommen haben. Die Sozialleistungen dienen der Absicherung der Grundlasten des Lebens wie Miete, Essen und Trinken, Energie und Krankheitskosten. Für den Spaßfaktor im Leben findet sich dann schon eine Gelegenheit des Zubrotes. Nun hat es das, was im Amtsdeutsch »Erschleichen von Sozialleistungen« heißt, immer gegeben, auch ohne Einwanderung. In Verbindung mit der Einwanderung aber übt ein System, das pekuniäre Leistungen austeilt, ohne eine Gegenleistung zu verlangen, auf Menschen eine hohe Versuchung aus, wenn sie aus Kulturkreisen stammen, in denen man ein staatliches Solidarsystem und den gesellschaftlichen Schutz vor existenzieller Not überhaupt nicht kennt.
Der Fairness halber darf man die nicht unterschlagen, denen wir es verboten hatten, für sich selbst durch Arbeit zu sorgen: Asylbewerbern war es untersagt, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Dahinter stand der politische Wille, eine Sogwirkung nach dem Motto »Kommt alle her, hier kann man richtig Geld machen« zu vermeiden. Die jahrelange Dauer der Asylverfahren, Staatenlosigkeit und weggeworfene Pässe mit einhergehender Amnesie des Wegwerfers, all diese Dinge führten zu Dauerduldungen teils über Jahrzehnte. Wenn man Menschen über einen so langen Zeitraum an das Sozialsystem gewöhnt, darf man sich nicht beklagen, wenn sie eine perfektionierte Professionalität erreichen und die Rechtsmaterie sicherer beherrschen als mancher Sachbearbeiter im Jobcenter.
An dieser Stelle will ich die verallgemeinernde, umgangssprachliche Kategorisierung aller Hartz- IV -Empfänger als Unterschicht aufgreifen. Immer wieder werden alle Menschen im Transfersystem als Unterschicht kategorisiert. Allein schon durch die vorstehende Differenzierung wird deutlich, dass die Empfänger von Hartz IV keine homogene Gruppe sind. Die Unterschicht hingegen ist es schon. Von Unterschicht spricht man immer dort, wo soziale, kulturelle, ökonomische und Bildungskompetenzen nicht vorhanden sind. Warum aber soll ein arbeitsloser Akademiker keine Bildungskompetenzen, eine alleinerziehende Mutter keine sozialen und ein Einwanderer keine kulturellen Kompetenzen haben? Also wird eine pauschalierende Betrachtungsweise der Vielschichtigkeit der Lebensläufe von Transferleistungsempfängern in keiner Weise gerecht.
Im Übrigen stammt der Begriff »Unterschicht« aus den Anfängen der Soziologie. Die heute gelegentlich verwendeten Begriffe wie »Prekariat« oder gar »abgehängtes Prekariat« haben eigentlich nur den Sinn, ein als stigmatisierend gebrandmarktes Wort schönredend zu umgehen. Manchmal dienen sie im Diskurs auch nur der Verschleierung gesellschaftlicher Realitäten.
Ein Viertel der Berlinerinnen und Berliner hat ein Einkommen unterhalb oder in der Nähe der Armutsgefährdungsschwelle. Auch hier liegt Neukölln mit 38 % weit über dem Durchschnitt.
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