Neukölln ist überall (German Edition)
die uns in diesem Buch interessieren. Die Auswirkungen der Wanderung auf den Wandernden selbst, aber auch die Stimulanz des Neuen am Ankunftsort sind bei der Betrachtung der verändernden Wirkung der Zuwanderung interessante Aspekte.
Was bringt Menschen dazu, ihre Heimat und ihr vertrautes Umfeld, ihre Freunde und Familien zu verlassen? In die Ferne zu gehen, ohne zu wissen, was auf sie zukommt? Also genau das zu tun, was uns Menschen für gewöhnlich Angst macht: den Schritt ins Ungewisse? In unserer heutigen Zeit gibt es eigentlich in der Summe nur noch zwei wirklich bedeutsame Triebfedern: das Streben nach mehr Wohlstand oder die Flucht vor Gewalt und Verfolgung. Oft mischen sich auch beide.
Doch unterscheiden sich die Wanderungsbewegungen heute von denen in früheren Epochen erheblich. Es geht nicht mehr um die Besiedlung von freiem Land, es geht nicht mehr um die Urbarmachung ganzer Erdteile, sondern es geht um die Suche nach dem individuellen Glück. Die Entscheidung, in ein anderes Land zu ziehen, ist heute auch nicht mehr unumkehrbar. Wer sich vor 150 Jahren nach Amerika aufmachte, der wusste, dass er die Ursprungsheimat für lange Zeit, manchmal für immer nicht mehr wiedersehen würde. Das ist heute anders. Bei regelmäßigen Reisen zurück an den Herkunftsort können die Traditionsakkus wieder aufgeladen werden. Das Auto oder das Sparticket für 49 Euro machen es möglich. Dort, wo es an Lust oder Geld zum Reisen fehlt, erfüllen die Satellitenschüssel und die Telefon-Flatrate denselben Zweck. Dies erschwert natürlich die Konzentration auf die neue Heimat und das neue Leben. Das Gefühl, dass man tatsächlich in einer anderen Welt angekommen ist und in ihr lebt, stellt sich nicht ein. Die alte Heimat bleibt omnipräsent. Sie steht quasi gleichberechtigt neben den neuen Eindrücken. Ja, sie stellt das Neue permanent auf die Waage und fordert eine Entscheidung über »Besser und schlechter als das Gewohnte« heraus. Die soziale Kontrolle funktioniert aktiv oder dezent im Hintergrund, auch über die Entfernung von Tausenden von Kilometern.
Ein zweiter Unterschied zwischen der Auswanderung etwa in die USA , nach Kanada oder Australien und der in die Staaten der EU besteht darin, dass die Menschen sich in ersterem Fall aufmachten, um Amerikaner, Kanadier oder Australier zu werden. Das war ihr Ziel. Sie wanderten aus in die Neue Welt, und sie strebten nach einer neuen Identität. Diesen Spirit haben heute Migranten aus dem Libanon, der Türkei, aus Somalia und so weiter schon seltener bis gar nicht. Nehmen wir als Beispiel die türkischstämmigen Migranten. Machen sie sich in Anatolien wirklich auf und verabschieden sich mit den Worten »Ich gehe und will Deutscher werden«? Wohl kaum. Der Abschiedsgruß lautet vermutlich eher: »Ich gehe Deutschland.« Auslöser für eine solche Entscheidung sind nicht selten glorifizierende Berichte über ein dem Paradies gleichendes Land, in dem Wohlstand und Geld ohne Mühsal auf jeden warten. Was wie eine semantische Stilübung aussieht, ist in Wirklichkeit eine kapitale inhaltliche Differenz.
In diesem Zusammenhang begegnen wir immer dem Begriff der Heimat. Was verbinden Menschen mit ihm? Die Erklärungen sind so vielfältig wie individuell. Die einen sagen, Heimat ist da, wo ich geboren bin. Welchen Pass ich in der Tasche habe, ist unwichtig . Andere sagen, Heimat ist da, wo mein Vater, mein Großvater oder meine Vorfahren herkommen. Auch wenn ich dieses Land noch nie gesehen habe . Wieder andere empfinden Heimatgefühle für ein Land, in dem die Felder und die Städte so aussehen wie in ihren Träumen. Es gibt sicher viele weitere Erklärungen. Ich fand die Antwort einer türkischstämmigen Migrantin auf meine Frage, wo für sie Heimat ist, so verblüffend kurz wie nachvollziehbar. Sie sagte: »Heimat ist immer da, wo das Brot ist.« Also da, wo ihr Lebensraum ist, und da, wo sie eine Chance hat, ihr Leben selbstbestimmt so zu gestalten, wie sie es für sich als erstrebenswert empfindet. Meine persönliche Definition ist die, dass die Heimat dort ist, wohin man sich zurücksehnt, wohin es einen zieht, wenn man in der Ferne ist. Sehnsucht ist in diesem Zusammenhang ein schönes Wort.
Ich glaube, dass man den Begriff der Heimat von dem der Integration in eine andere Gesellschaft trennen muss. Um mich in andere als die gewohnten Lebensregeln einzufügen, also zu integrieren, muss ich nicht Heimatgefühle mit Tränen in den Augenwinkeln entwickeln. Man kann auch
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