Neukölln ist überall (German Edition)
manchmal die Maßstäbe verloren. Als ich das Untersuchungsergebnis für die Einschulung vom letzten Herbst erhielt, habe ich kein bisschen gezuckt. Und dennoch ist es bei einigem Nachdenken unglaublich, dass wir insgesamt 39 % aller Einwandererkinder eingeschult haben mit gar keinen oder nur sehr fehlerhaften Deutschkenntnissen. Dass dies nach 48 % in 2009 und 49 % in 2010 schon ein erheblich niedrigerer Wert ist, wirkt dabei auf mich kein bisschen beruhigend (zumal zwischen 2009 und 2011 die Sprachauffälligkeiten bei den deutschstämmigen Abc-Schützen von 10 % auf 17 % gestiegen sind). Wir schulen Kinder der dritten oder vierten Einwanderergeneration ein, die der Landessprache nicht mächtig sind. Von denen fast 10 % sogar ohne jeden Bezug zur Sprache sind. Obwohl zumeist einer der Elternteile in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Wo haben sie bisher gelebt? Wie wird in der Familie gesprochen? Welcher Fernsehsender ist eingeschaltet?
Ich glaube, wir alle können diese Fragen beantworten: Man spricht die Sprache aus dem Dorf von Opa. Wir sind und bleiben Türken, Araber, Somalier oder was auch immer. Das ist eben der Unterschied zu Einwanderern in den USA . Diese wollen Amerikaner werden. Die Menschen aber, über die ich spreche, wollen keine Deutschen werden. Deswegen leben und bleiben sie in ihrer Welt, und deswegen bemühen sie sich nicht, aktiv das deutsche oder mitteleuropäische Wertesystem zu erfassen. Es ist auch leicht für sie, diesen Weg zu wählen. Man muss in Stadtlagen wie Neukölln nicht die deutsche Sprache beherrschen. Das Alltags- und Dienstleistungsangebot der eigenen Ethnie ist inzwischen perfektioniert und vollkommen. Benötigt man einen Behördenkontakt, regelt das ein Bekannter als Sprachmittler, oder man besteht auf einem Dolmetscher. Wird diesem Willen nicht nachgegeben, gerät die Behörde in die Kritik, weil sie nicht kultursensibel ist.
Ob es sich einfach um menschliche Bequemlichkeit oder eine aktive Verweigerungshaltung handelt, ist naturgemäß im Einzelfall schwer zu entscheiden. Bei meinen vielfältigen Gesprächen über einen langen Zeitraum mit unmittelbar vor Ort tätigen Menschen in Kindergärten, Schulen, Migrantenorganisationen oder auch direkt mit Einwanderern wird immer wieder ein Wert von 30 % der Einwanderer genannt, die – entweder bewusst oder aus Gleichgültigkeit – an der deutschen Gesellschaft vorbeileben. Ich kann nicht belegen, ob diese Einschätzungen zutreffen. Aus der Erfahrung heraus halte ich es für nicht unwahrscheinlich.
Die Auffassung, das ist eben so und basta, ist bequem. Dann lassen wir die ethnischen Kolonien oder »asymmetrischen Gesellschaften«, wie sie der verstorbene Stadtsoziologe Professor Dr. Hartmut Häussermann oder der Politikwissenschaftler Hamed Abdel-Samad genannt haben, doch einfach in Ruhe. In Kanada, in den USA , in Australien, überall gibt es »ethnische Stadtviertel« . Was stört uns an Deutsch-Izmir in Berlin? Das ist in der Tat kein Spaß, sondern von erheblicher Relevanz. Bereits heute liegt der Anteil der Einwandererkinder bis 18 Jahren bei 67 %. In Nord-Neukölln sind es schon 80 %. Spätestens in zehn Jahren wird Neukölln, zumindest aber Nord-Neukölln eine Einwandererstadt sein.
Wir entscheiden heute mit unserer Politik, ob Neukölln dann nur noch auf dem Atlas in Mitteleuropa liegt oder auch in den Köpfen und in den Herzen der Menschen, die dort leben. Deswegen ist es eben nicht egal, ob die Eltern ihre Kinder erziehen, wie sie sie erziehen, und welche Werte sie ihnen vermitteln. Aus meiner Sicht steht mehr auf dem Spiel als in der witzigen Bemerkung einer bedeutenden Person, die sich beim Amtsantrittsgespräch bei mir einführte mit der Bemerkung: »Eines habe ich als allererstes gelernt: In Neukölln herrscht eine andere Straßenverkehrsordnung.«
Die Migration im Grundsatz
Dass ganze Völker sich auf Wanderschaft begeben, ist in der Menschheitsgeschichte nichts Ungewöhnliches. Auch nicht, dass sich Einzelne allein oder gemeinsam mit ihrer Familie auf den Weg nach einem anderen Ort machen. Die Gründe hierfür sind schnell aufgezählt. Vertreibung durch ein anderes, stärkeres Volk, Religionskonflikte, Verlust der Heimat infolge von Kriegen, Naturkatastrophen oder auch nur die Suche nach besseren Lebensbedingungen. Für die Geschichtsbücher sind die Folgen, die Barbarei und Kriege für das Kollektiv haben, sicher bedeutsamer als Einzelschicksale, aber gerade Letztere sind es,
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