Neukölln ist überall (German Edition)
Gesellschaft einschreiten. Die Probleme müssen benannt werden. »Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit. Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist«, so sagte es einst Ferdinand Lassalle. Wegducken und Schönreden haben noch nie Probleme gelöst. Die Political Correctness ist häufig lediglich ein willkommenes Alibi für das Nichtstun, für das Schweigen und die Ignoranz. Die sozialromantische Multikulti-Gesellschaft, in der sich aus jeder Kultur das Gute Bahn bricht und aus all den positiven Einflüssen die Symbiose einer neuen, menschlichen Kulturform entsteht, ist lieb gedacht, aber grenzenlos naiv. Sie hat etwas von der Vision, das Paradies durch Religion zu schaffen, und gibt dem ewigen Traum nach Vollkommenheit im Guten lebensreal bezogenen Raum.
All diese dem Alltag entrückten Vorstellungen lassen den Menschen an sich außer Acht. Meine Erfahrung ist: Niemand will beliebig sein. Jeder will wissen, wo er herkommt, wo seine Wurzeln sind und wo er hingehört. Oder klarer formuliert: Niemand will multikulturell sein. Das hat nichts damit zu tun, dass er seine Nachbarn oder seine Arbeitskollegen nicht schätzt. »Multikulturell« heißt im Grunde genommen nichts anderes als »austauschbar«. Das stellt das Individuum und seine unverletzliche Würde in Frage. Zweifelsohne eine Anlehnung an die »-ismus«-Lehren, die alle nur das Kollektiv und die Unterwerfung des Einzelnen unter einen Willen kennen.
Die Realität sieht dort, wo wir eine multiethnische Gesellschaft aus 150 Nationen wie in Neukölln haben, ganz anders aus. Die Menschen gehen nicht mit weit ausgebreiteten Armen aufeinander zu. Im Gegenteil, die Ethnien grenzen sich – von Einzelfällen abgesehen – strikt gegeneinander ab. Mitunter ziehen unterschiedliche Lesarten einer Religion Trennungslinien nicht nur zwischen Menschen, sondern auch in den Wohngebieten.
An dieser Stelle fällt mir eine Begebenheit in einer Schule ein. Bei der Elternversammlung hatte der arabischstämmige Elternvertreter das Wort ergriffen. Er sprach davon, dass wir »im Moment noch sehr stark auf der Grundlage unserer heimatlichen Kulturen miteinander diskutieren, das wird sich aber in zwei Generationen immer mehr verwachsen und einebnen, und wir werden zu einem gemeinsamen kulturellen Leben finden«. Was sich daraufhin in dem Saal erhob, war ein Proteststurm, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Die türkischstämmigen Eltern schrien den Elternvertreter derart nieder, dass ich Sorge vor Handgreiflichkeiten hatte. Wir Türken werden unsere türkische Kultur und unser Türkischsein nie verlieren! Es mag sein, dass die Araber so mit ihrer Kultur umgehen, aber wir türkischen Eltern verbieten Ihnen ausdrücklich, weiter so in unserem Namen zu reden!
Das ist sicher ein Einzelfall. Aber er zeigt, wie weit Sozialromantik und die tatsächlichen Empfindungen der Menschen divergieren können.
Natürlich hat die Beantwortung dieser Fragen auch etwas mit dem Selbstbewusstsein zu tun. Unmissverständliche Ansagen wie: »Hier sind die Niederlande, hier gelten niederländische Sitten, niederländische Gesetze und sonst nichts«, oder entsprechend: »hier ist Frankreich …«, »hier ist Österreich …«, sind für sich genommen nicht zu kritisieren. In Deutschland allerdings ist solch ein Satz schon arg verdächtig, aus dem Wahlprogramm einer rechtsradikalen Partei entnommen zu sein. Wer so etwas ausspricht oder niederschreibt, ist mindestens ein deutschtümelnder Konservativer, wenn nicht gar ein Rassist und Neonazi. Die organisierte Links-Empörung ist gut vernetzt und erfolgreich in unsichtbaren Repressionen. Es geht flink und leise, und unbotmäßiges Verhalten wird durch Auftragsentzug bestraft. Unser geschichtliches Erbe, das kollektive Schuldbewusstsein und der andauernde, rituelle Entschuldigungsdrang sind für einen gesellschaftspolitischen Diskurs nicht förderlich. Auch begünstigen sie Schubladendenken und jedwede Totschlagargumentation. Es ist schön, in und von Deutschland zu leben. Aber es ist peinlich, ein Deutscher zu sein. Die Antwort der griechischen Medien auf die Hilfe aus Deutschland in Form einer Karikatur der deutschen Regierungschefin als neuer Hitler verdeutlicht diesen Gedanken. Dieses Mantra empfinden viele als ungerecht und missachtend. Man stelle sich vor, in Deutschland würden Medien so mit der Staats- und Regierungsspitze eines anderen Landes
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