Neukölln ist überall (German Edition)
Sitzungen ohnmächtig. Die Wohnbaugesellschaft konnte die Aufgabe alleine nicht stemmen, der Gesellschafter entschied sich für den Verkauf, und der Bürgermeister ahnte das Unheil. Ich bin jedenfalls der festen Überzeugung, dass die sozialen Folgekosten, die wir als Land Berlin inzwischen zu tragen hatten, die Einnahmen aus dem Verkauf der Siedlung bereits um ein Vielfaches überstiegen haben. Solches Denken in Zusammenhängen ist aber kaum verbreitet. Dabei sind doch alles öffentliche Mittel, also Geld der Steuerzahler.
Ansonsten begann 2002 in Berlin die Epoche des Sarrazynismus. Weiche Faktoren, soziale Aspekte, Stadtrendite, soziale Verantwortung der städtischen Wohnungsbaugesellschaften für den Kiez – solche unanständigen Wörter durften noch nicht einmal mehr gedacht werden. Es zählten nur Gewinnmargen und Abführungsquoten an das Land. Erst 2007 wurde durch die damalige Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer der wohnungspolitische Kurs in Berlin geändert. Die städtischen Wohnbaugesellschaften erhielten wieder den Auftrag, ihre Geschäftspolitik auch an der Bevölkerungs- und Sozialstruktur auszurichten und sie nach Möglichkeit positiv zu beeinflussen. Da aber, wo das Kind bereits in den Brunnen gefallen war, blieb nur der Reparaturbetrieb »Soziale Stadt«.
* Abrufbar unter: www.berlin.de/lb/intmig/partizipationsgesetz_berlin.html
Andere Kulturen und dann noch
die Sache mit der Religion
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der inzwischen schon fast als selbstverständlich hingenommenen Dominanz des Islam. Keine Religion beansprucht für sich einen so breiten öffentlichen Raum in der gesellschaftspolitischen Diskussion wie der Islam. Nicht selten erfolgt im Diskurs eine völlig irreführende Gleichsetzung von Migrant und Moslem. Richtig ist, dass von den rund 16 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland höchstens ein Viertel Muslime sind. Das Spektrum der Religionen in Deutschland ist breiter geworden. Und der Islam ist nur eine der Religionen, die neu hinzugekommen sind.
Von den 128 000 Menschen mit Migrationshintergrund in Neukölln sind – wie bereits erwähnt – etwa 57 000 Muslime. Der Islam ist also in Neukölln angekommen, und er wird auch bleiben. Gerade über die Frage, in welchem Verhältnis er zur deutschen Gesellschaft steht, gab es aus Anlass der Rede des damaligen Bundespräsidenten Wulff eine leidenschaftliche Diskussion. So richtig verstanden habe ich die Adrenalinschübe bei einigen Zeitgenossen damals nicht. Ich will zum besseren Verständnis die entscheidenden Passagen aus der Rede zitieren:
»Wir haben erkannt, dass Einwanderung stattgefunden hat, auch wenn wir uns lange nicht als Einwanderungsland definiert und nach unseren Interessen Zuwanderung gesteuert haben. Und wir haben auch erkannt, dass multikulturelle Illusionen die Herausforderungen und Probleme regelmäßig unterschätzt haben: Verharren in Staatshilfe, Kriminalitätsraten, Macho-Gehabe, Bildungs- und Leistungsverweigerung. (…)
Und ja, wir brauchen auch viel mehr Konsequenz bei der Durchsetzung von Regeln und Pflichten – etwa bei Schulschwänzern. Zur Wahrheit gehört aber auch dazu: Das gilt für alle, die in diesem Land leben. (…)
Zuallererst brauchen wir eine klare Haltung. Ein Verständnis von Deutschland, das Zugehörigkeit nicht auf einen Pass, eine Familiengeschichte oder einen Glauben verengt, sondern breiter angelegt ist. Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das ist unsere christlich-jüdische Geschichte. Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland. (…)
Zu Hause zu sein in diesem Land – das heißt dann, unsere Verfassung und die in ihr festgeschriebenen Werte zu achten und zu schützen: zuallererst die Würde eines jeden einzelnen Menschen, aber auch die Meinungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Sich an unsere gemeinsamen Regeln zu halten und unsere Art zu leben zu akzeptieren. Wer das nicht tut, wer unser Land und seine Werte verachtet, muss mit entschlossener Gegenwehr aller in unserem Land rechnen – das gilt für fundamentalistische ebenso wie für rechte oder linke Extremisten.
Wir erwarten völlig zu Recht, dass jeder sich nach seinen Fähigkeiten einbringt in unser Gemeinwesen. Wir verschließen nicht die Augen vor denjenigen, die Gemeinsinn missbrauchen. (…)
Wir achten jeden, der etwas beiträgt zu unserem Land und
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