Neukölln ist überall (German Edition)
Häussermann, der meine Kampfbegriffe wie »Parallelgesellschaften«, »Sozialromantik« und »gescheiterter Multikulturalismus« aufnahm und höflich, aber doch lehrhaft zurückwies und wissenschaftlich auseinandernahm. Seine menschlich sehr angenehme Art führte aber dazu, dass wir uns persönlich nie gram waren und uns von Veranstaltung zu Veranstaltung sogar annäherten.
Als dann im Laufe der Zeit die sozialen Daten immer dramatischer wurden und Prof. Dr. Häussermanns Sprache sich für seine Verhältnisse stark radikalisierte, ohne dass die Politik darauf reagierte, kam es 2008/2009 sogar zum Schulterschluss. Insbesondere seine Arbeit mit den Daten aus Neukölln hat ihn stark sensibilisiert. Wir wurden bald nicht mehr zusammen eingeladen, weil immer unwahrscheinlicher wurde, dass wir unterschiedlicher Meinung waren. Der Wissenschaftler trat bis zuletzt in Veranstaltungen auf und nahm Neukölln als das reale Beispiel einer asymmetrisch mutierenden Stadt. Er wurde zu unserem Kronzeugen.
Die detaillierten rein Neuköllner Spezifika sind natürlich für manche Leser nur von nachrangigem Interesse. Es ging mir vor allem darum zu verdeutlichen, wie sich ein ganzer Stadtteil von über 300 000 Menschen in einer konkreten Problemlage mit 150 000 Menschen wissenschaftlich nachgewiesen auf einer rasanten Talfahrt befinden kann, während die Landespolitik völlig ungerührt weiter vor sich hinnickert. Dazu gehören schon ein ziemlich dickes Fell und eine stramme Portion Nonchalance.
Zusätzlich zum »Monitoring Soziale Stadtentwicklung« lässt die Landesregierung in unregelmäßigen Abständen einen Sozialstrukturatlas erstellen und veröffentlichen. Es kann nicht verwundern, dass bisher die Ergebnisse ziemlich deckungsgleich mit denen des Monitorings waren. Aber auch die Reaktionen waren identisch. Große Betroffenheit wurde in die Mikrophone und Kameras gehaucht und entschlossene Abhilfe angekündigt. Hierzu wurde die x-te Arbeitsgruppe von Staatssekretären eingesetzt, die dann, nachdem sich die Medienaufmerksamkeit gelegt hatte, wie ihre Vorgänger sanft entschlummerte.
Im Sommer 2012 war es wieder einmal so weit. Auf eine parlamentarische Anfrage hin musste der Senat erneut offenlegen, dass in Berlin jeder dritte junge Mensch unter 18 Jahren in einem Hartz- IV -Haushalt lebt. In Neukölln und Mitte sind es 50 % und in einigen Bezirksteilen weitaus mehr. Auf die Frage nach der Strategie zur Bekämpfung der Kinderarmut gab es welche Antwort? Dreimal dürfen Sie raten. Na klar, es wird eine ressortübergreifende Arbeitsgruppe eingesetzt. Verfolgen wir ihre Halbwertszeit.
Nicht verschweigen möchte ich auch, dass einige unserer heutigen Brennpunktlagen durch unmittelbares staatliches Handeln stimuliert wurden.
Im Jahre 2006 entschied der damalige rot-rote Senat, den Verkauf städtischer Wohnungen zu stoppen. Hintergrund war die Absicht, eine Mindestanzahl von 260 000 Wohnungen aus Gründen der Marktregulierung im städtischen Besitz zu behalten. Eine kluge und richtige Entscheidung. Vorher wurden aber noch schnell zwei große Wohngebiete verkauft. Die sogenannte Weiße Siedlung mit 1700 Wohnungen und der größte Teil der High-Deck-Siedlung mit 1900 Wohnungen. Beide liegen in Nord-Neukölln. Käufer waren zu jener Zeit natürlich Heuschrecken. Die weitere Entwicklung war wie aus dem Lehrbuch. Die Banken wollten durch Vollvermietung beruhigt werden, also musste der Leerstand weg. Die Folge waren Anzeigen mit der netten Offerte »Schöne Neubauwohnung, xx qm, drei Monate mietfrei, gerne auch Hartz- IV -Empfänger«.
Ich kann es mir ersparen zu beschreiben, mit welch affenartiger Geschwindigkeit sich der Absturz der Sozialstruktur in den beiden Gebieten vollzog. Als zum partiellen Mittun verurteiltem Bezirksbürgermeister kamen mir damals durchaus revolutionäre Gedanken. In den Verkauf der einen Siedlung war ich nicht einmal am Rande involviert. Sie gehörte einer städtischen Gesellschaft, zu der ich keine direkten Kontakte hatte. Bei der High-Deck-Siedlung war das anders. Sie gehörte einer Gesellschaft, in deren Aufsichtsrat ich damals saß und auch heute noch sitze. Wir erhielten die klare Direktive des Gesellschafters Land Berlin, dass die für die Sanierung der Siedlung benötigten 50 Millionen Euro nicht zur Verfügung stünden und daher die Wohnungen zu verkaufen seien. Mir war damals klar, wie die Folgen aussehen würden. Und so ist es dann ja auch gekommen. Ich fühlte mich in den entscheidenden
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