Neukölln ist überall (German Edition)
wir aber keine genaue Datenlage darüber haben, wie stark die Anhängerschaften der einzelnen Moscheen oder insbesondere der Glaubensrichtungen des Salafismus und des Wahhabismus, also der extremsten islamischen Strömungen, tatsächlich sind. Es muss doch stutzig machen, wenn die Berliner Chefin des Verfassungsschutzes erklärt, nach ihren Erkenntnissen gebe es in der Stadt etwa 300 bis 500 Salafisten. Diese Glaubensrichtung betreibt zwei Moscheen, eine davon in Neukölln. Und schon diese eine hat einen Gebetssaal für 1500 Gläubige, und beim Freitagsgebet stehen mitunter noch ein paar Hundert auf der Straße.
Wir haben auch nur verschwommenes und rudimentäres Wissen darüber, was sich in den einzelnen Moscheen praktisch vollzieht. Wird in allen Moscheen tatsächlich nur der Glaube praktiziert, oder verfolgt man islamistische Ziele, also die des politischen Islam? Werden junge Leute angeworben, um ihnen Halt zu geben und ihre Persönlichkeit zu festigen, oder eher, um sie mit der Bestimmung zum Mujahid – also zum Gotteskrieger – vereinnahmend bekannt werden zu lassen? Was passiert tagtäglich mit Kindern ab vier Jahren in den Koranschulen? Das sind Fragen, die man sich stellen kann, die die deutsche Gesellschaft aus meiner Sicht auch stellen muss, aber es nicht tut. Vielleicht, weil wir wissen, dass wir sowieso keine vernünftige Antwort kriegen.
Einen Überblick haben wir darüber, welcher grundsätzlichen Glaubensschule sich die einzelnen Moscheevereine zugehörig fühlen. Ob sie Anlaufstellen der Hisbollah oder Hamas sind, ob sie der Moslembruderschaft oder Millî Görüş nahestehen und wer mit wem vernetzt ist. In Neukölln werden regelmäßig elf Moscheevereine durch den Verfassungsschutz beobachtet. Es stößt uns schon auf, wenn sich ein Verein aus etwa 40 nicht gerade begüterten Menschen gründet, aber kurze Zeit darauf ein Gemeindezentrum für 10 bis 15 Millionen Euro bauen möchte. Auch da sind kritische Nachfragen unerwünscht und führen sofort zu Beschützerverhalten einschlägiger politischer Kreise oder Organisationen. Christliche Gemeinden und Hochschulen sind hiervon ebenfalls nicht ausgenommen, wie das jüngste Beispiel eines in Neukölln gegründeten neuen Bürgerbündnisses gezeigt hat. Die stereotype Antwort auf den Hinweis, dass einige der Mitglieder unter der Beobachtung der Verfassungsschützer stehen, lautete: »Ja, das wissen wir, aber man muss die Liberalen in diesen Organisationen stärken.« Oder die renommierte Stiftung, die bei einem Projekt mit Moscheen zusammenarbeitet, die als Anlaufpunkte der Hisbollah, Hamas und Salafisten gelten. Hier wurden unsere Bedenken quittiert mit der Bemerkung: »Wertvorstellungen unserer Partner messen wir keine Bedeutung zu.« Da es für uns Grundvoraussetzung jeglicher Zusammenarbeit ist, dass sich Partner der demokratischen Werteordnung verpflichtet fühlen, haben wir natürlich um Verständnis gebeten, dass wir das Projekt den Neuköllner Schulen nicht empfehlen können.
Aber es ist manchmal schon nahezu absurd, welche Organisationen sich bereitwillig als Unterschlupf und seriöser Deckmantel missbrauchen lassen. Die Folge davon ist eine völlig schiefe Diskussionsebene. Man befindet sich urplötzlich im Konflikt mit jemandem, mit dem man eigentlich gar nicht im Unfrieden ist. Und es entsteht vor allem eine fast unangreifbare Position für einen zweifelhaften Verein. Es mag mitunter bei den Einzelnen Naivität und/oder Gutmenschentum die Ursache sein, bei den Frontleuten ist es Kalkül. Wer mehrere Hundert johlende Menschen aus zum Teil obskuren Gruppierungen mit Sympathie für Hamas, Hisbollah, Salafiten und Millî Görüş für das Idealbild der Zukunft Neuköllns hält, hat ein anderes Weltbild als ich. Mich stoßen derartige Rituale ab. Wer die toleranzzersetzende Wirkung des Fundamentalismus nicht erkennt oder erkennen will, der wird schon allein dadurch zum Helfershelfer.
Insbesondere auf junge Leute üben orthodoxe Religionsauslegungen eine starke Anziehungskraft aus. Sie helfen vielen Gescheiterten, die sich benachteiligt, diskriminiert und ausgegrenzt fühlen, ihre Perspektivlosigkeit zu kompensieren. An ihrer Situation muss jemand schuld sein. Da sie selbst es aus ihrer Sicht nicht sein können, liegt der Fall klar: die deutsche Gesellschaft. Oder im Straßenjargon: die Scheißdeutschen. Für diese Frustrierten stiften die Religion und insbesondere der kompromisslose und fundamentalistische Glaube eine neue Identität. Das
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