Neumond: Kriminalroman (German Edition)
leid«, sagte sie. »Seit Patrick mitbekommen hat, was heute Nacht geschehen ist, will er sich einfach nicht mehr beruhigen. Ich weiß auch nicht, was ich noch tun soll.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und zuckte mit den Schultern.
»Sie dürfen nicht glauben, dass ich Ihren Sohn diskriminiere – ich bringe durchaus Verständnis für seine Behinderung auf. Trotzdem geht er meines Erachtens langsam zu weit.« Der Mann stemmte seine Hände in die Hüften.
Frau Oberhausner zückte ein Taschentuch und schnäuzte sich. »Natürlich«, sagte sie. »Ich werde versuchen, eine Lösung zu finden.«
Der Glatzkopf nickte stumm, drehte sich um und marschierte zurück. »Hier gibt es keinen Aufzug«, sagte er, als er an Morell vorbeikam, so als hätte er dessen Gedanken gelesen. »Sie müssen die Stiege nehmen.«
Morell starrte auf Valeries Taschen, die so vollgepackt waren, als würde sie eine mehrmonatige Weltreise antreten wollen, und unterdrückte ein Fluchen. Das fing ja gut an: eine völlig aufgelöste Wirtin, ein grantiger Mitgast und kein Aufzug.
Er begann damit, das Gepäck hochzuschleppen und fragte sich, was die kommende Woche wohl sonst noch so alles für ihn in petto hatte.
3
Inspektor Danzer, der Chef der St. Gröbner Polizei, beschloss zu kapitulieren.
Seit einer geschlagenen Viertelstunde redete Frau Jäger nun schon auf ihn ein, ohne ihn auch nur ein einziges Mal zu Wort kommen zu lassen – das reichte. Er schaltete sein Hirn auf Durchzug und blendete ihr nervtötendes Geschwafel einfach aus. Während sie weiterschwadronierte, schielte er einfach auf die rechte Seite seines Schreibtisches, wo die heutige Tageszeitung lag, und studierte unauffällig die Schlagzeilen: Haiangriff in Florida, drei Tote bei einem Lawinenabgang in Vorarlberg, und ein ranghoher Politiker hatte Bestechungsgelder angenommen.
Die Ereignisse der heutigen Nacht hatten ihren Weg in die aktuelle Ausgabe noch nicht gefunden. Über sie würde erst morgen berichtet werden – sehr wahrscheinlich nicht auf dem Titelblatt, sondern nur im Lokalteil. Immerhin handelte es sich ja auch nur um einen simplen Suizid und nicht um einen geschickt vertuschten Mord, wie Frau Jäger ihm auf ihre ziemlich lebhafte und laute Art weismachen wollte.
Inspektor Danzer musterte sein Gegenüber: Hübsch war die junge Friseurin ja. Mit ihren grünen Katzenaugen und dem langen, schwarzen Haar hatte sie schon so manch einem St. Gröbner den Kopf verdreht. Aber dieses Temperament … Er wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Nein, eine Frau wie sie würde er keinen einzigen Tag lang aushalten. Da war ihm seine ruhige, bodenständige Rita tausend Mal lieber.
»Die Überlebenschance bei Lawinenunfällen ist viel geringer als bisher angenommen – kaum 40 Prozent«,
las Danzer gerade, als Frau Jäger endlich aufhörte zu reden. Wie es schien, hatte sie ihr ganzes Pulver verschossen – das war seine Chance, sie zur Vernunft zu bringen.
»Also«, setzte er so langsam und ruhig an, als würde er auf eine kranke Kuh einreden. »Der Tod ihrer Freundin ist tragisch, keine Frage, und ich bringe auch vollstes Verständnis dafür auf, dass Sie sehr aufgewühlt sind. Ich kann Ihnen aber definitiv versichern, dass Frau Weigl sich selbst umgebracht hat. Erstens gibt es keine Hinweise auf Fremdverschulden und zweitens haben wir das hier bei ihr gefunden.« Er legte ein Blatt Papier auf den Tisch.
Frau Jäger griff danach und überflog das Geschriebene: »Meine Lieben! Ich weiß mir nicht mehr zu helfen. Bitte verzeiht mir, aber ich kann so nicht weitermachen«, las sie laut vor und legte das Papier anschließend mit zitternden Händen zurück auf den Schreibtisch. »Nie und nimmer hat Sabine das geschrieben! Sie war jung und glücklich! Ich weiß das – immerhin bin ich … ich meine war ich … ihre beste Freundin.«
Danzer nahm den Abschiedsbrief und schob ihn zurück in die Akte. »Viele Menschen verstecken ihre wahren Gefühle jahrelang. Nach außen wirken sie fröhlich und unbeschwert, aber in ihrem Inneren gibt es tiefe, dunkle Abgründe. Sie würden sich wundern, wie wenig wir über unsere Mitmenschen oft wissen.« Er lehnte sich zurück, strich über seinen buschigen Schnurrbart und hoffte, dass Frau Jäger endlich zur Vernunft kam. »Vertrauen Sie auf meine Erfahrung – ich habe immerhin mehr als 20 Dienstjahre auf dem Buckel«, versuchte er, sie weiter von der Richtigkeit seiner Worte zu überzeugen. Dabei verschwieg er, dass
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