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Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)

Titel: Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Meira Pentermann
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kämpfte sich zum Abwassersystem durch. Aiden und ich, wir waren Teil dieser Gruppe.“
    Chester legte den Kopf in seine Hände. „Ich sah zu – ich sah einfach zu – von einem Kanalisationsrohr an der Seitenstraße aus. Sogar als die Bomben fielen, konnte ich einfach nicht wegsehen. Was für ein Mann—?“
    „Du musstest deinen Sohn beschützen.“
    Chester redete weiter, als ob Leonard gar nicht da wäre. „Die Menschen schrien und ich stand einfach nur da. Wie ein Feigling. Ich war früher in der Air Force. Kannst du das glauben? Ich hätte kämpfen sollen.“
    „Womit? Hattest du zufällig ein paar Raketenwerfer zuhause rumstehen?“
    „Mittlerweile habe ich das“, sagte er nüchtern.
    Leonard wusste nicht, was er mit dieser neuen Information anfangen sollte.
    Chester schloss seine Augen. „Ich hab noch nicht einmal nach Caroline gesucht… meiner Frau. Sie war bei der Arbeit in Frisco, als die Bomben runterkamen. Aiden und ich waren gerade am Jachthafen.“ Er räusperte sich. „Also statt sie retten zu gehen, bin ich mit Aiden in den Untergrund geflohen.“
    „Wenn du das nicht gemacht hättest, wärt ihr alle getötet worden.“
    „Als ich sah, wie die Soldaten landeten, führte ich ein paar Dutzend Leute runter in die Abwasserkanäle. Kaum zu glauben, aber die Staatsbeamten haben nie da unten gesucht. Wir versteckten uns tagelang. Tranken Wasser vom Entwässerungssystem, von dem ich betete, dass es sauber genug war.“
    „Offensichtlich haben wir es überlebt“, flüsterte Aiden.
    „Später hörten wir, dass die Soldaten die letzten Überlebenden ganz im Che–Guevara–Stil exekutierten. Kopfschüsse genau zwischen die Augen wurden groß gefeiert. Andere wurden in Ski–Lifts in Breckenridge gesetzt und dann schossen sie einen nach dem anderen runter. Es war für sie eine Art Heckenschützenübung. Wir haben am Fuß der Skipiste haufenweise Leichen gefunden.“
    Leonards Hals zog sich zusammen. „Vielleicht sollte Natalia das nicht alles hören.“
    Chester sprang von seinem Stuhl und schrie: „Vielleicht sollte sie sich aber auch ein paar Notizen machen und ihr Wissen in die Welt hinaustragen. Dieses Verhalten, Geschichte zu zensieren, muss endlich aufhören.“ Er fing an, aufgewühlt auf und ab zu gehen.
    „Schon gut, Dad“, sagte Natalia, aber aus ihrer Stimme war Furcht zu hören.
    „Wenn die Leute endlich verstehen würden, warum diese Ideologie von Natur aus fehlerhaft ist, könnten wir vielleicht das daraus entstehende Grauen verhindern.“ Chesters Stimme zitterte und er verstummte plötzlich, um sich zu sammeln. Einen Moment später sprach er aufgeregt und wütend weiter. „Das Problem mit Marxismus ist, dass man weder Intelligenz noch Einfallsreichtum benötigt, um erfolgreich zu sein. Nur Loyalität gegenüber der Partei, oder in unserem Fall Loyalität gegenüber der Regierung, wird belohnt. Es ist eine Brutstätte für die Oligarchie von Schlägern. Leute, die keinerlei Fähigkeiten besitzen, aber dem Willen der Regierung nachgeben, klettern die Leiter immer weiter hinauf und bekommen privilegierte Posten. Gewalt und Folter sind für sie nur kleine Spielchen am Rand.“
    Mittlerweile weinte Natalia heftig. Aiden brachte sie schnell aus der Hütte. Leonard war dem Jungen dankbar für diese Geste und atmete erleichtert auf.
    Chester kehrte zu seinem Platz zurück und schien keineswegs abgeschreckt zu sein. „Trotzdem können die Ideologen den Ursprung jahrzehntelanger Qualen nicht erkennen. Es scheint, als ob es eine vom Staat verhängte Verschlusskappe gäbe, die über die Anzahl von Neuronen bestimmt, welche zwischen ihren Synapsen wandern dürfen.“
    Leonard lachte versehentlich in sich hinein. Ihm drehte sich der Magen um und es fühlte sich so an, als ob ihn die Informationen verschlingen würden, wenn er sie nicht irgendwie abschwächte.
    Chester starrte ihn an, schien aber nicht über Leonards nervöses Lachen verärgert zu sein. Er schien es beinahe zu verstehen. Abgestumpft murmelte der Mann: „Also, das ist, was hier passiert ist.“

Kapitel Fünfunddreißig

     
    Leonard ging hinaus, um etwas frische Luft zu schnappen und dabei die Bilder des Schreckens und der Zerstörung zu verdrängen, die drohten, die dünne Schutzschicht um seine geistige Gesundheit zu zerschmettern.
    Natalia saß auf einem großen Felsen am Bach, während Aiden mit dem schwarzen Labrador spielte und einen Tennisball für ihn warf.
    „Komm schon Hayek“, rief er. „Braver Junge. Was

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