Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Natalia sich gewaschen hatten, versammelten sich die vier um den unebenen Holztisch der Familie Woods. Natalia hatte einen marineblauen Trainingsanzug mit hochgerollten Ärmeln und nach innen gefalteten Hosenbeinen an und setzte sich neben Aiden. Chester ließ sich am Kopf des Tisches nieder und Leonard nahm direkt gegenüber von seiner Tochter Platz.
An jedem Sitzplatz stand eine nicht zusammenpassende Anordnung von Tellern und Besteck sowie große Wassergläser bereit. In der Mitte des Tisches erwarteten die Besucher unterschiedliche Lebensmittel – darunter Gemüse, Fladenbrot und eine Art Dörrfleisch.
„Haut rein“, sagte Chester. Da er völlig ausgehungert war und ebenso wenig seinem befehlerischen Gastgeber den Gehorsam verweigern wollte, griff Leonard nach dem Dörrfleisch.
Das Fleisch schmeckte nach Wild und ganz anders als alles, was Leonard je zuvor probiert hatte. Er hielt es für besser, nicht nach der Herkunft des Dörrfleischs zu fragen. Die Antwort könnte ihm den Appetit verderben und er musste seine Kräfte wiedererlangen. Waschbär, Kojote, Eichhörnchen – es war nicht wirklich wichtig. Natalia schien jedoch mit sich zu kämpfen. Sie betrachtete das Fleisch misstrauisch und nahm nur kleine Bissen, die sie mit reichlich Wasser runterspülte. Doch das Fladenbrot schmeckte frisch und Leonard und Natalia verschlangen es genüsslich.
Aiden knabberte nur gelegentlich an seinem Brot und sah ab und zu auf, um Natalia zu beobachten. Leonard behielt ihn im Auge, sagte aber nichts. Chester schien das Ganze gar nicht zu bemerken.
Schließlich bemerkte Natalia Aidens dreistes Glotzen und fragte leise: „Was guckst du denn so?“
Der Junge verlor keine Zeit und antwortete grinsend: „Ich beobachte nur das hübscheste Mädchen, das ich je gesehen habe.“
„Ich nehme mal an, dir begegnen hier oben nicht so viele Mädchen“, neckte sie ihn, aber ihre spielerischen Absichten gingen irgendwo auf dem Weg zu ihm verloren.
Aiden runzelte die Stirn und seine heitere Art verschwand sofort. Er kniff die Augen zusammen und sprach mit fester Stimme, die innerhalb einer Sekunde um Jahre gealtert zu sein schien. „Ich hatte ein Leben vor all dem hier. Wir haben unsere Mutter während der Auslöschung verloren.“ Er zögerte. „Ich kenn mich ganz gut in der Welt aus, Kleines.“
Natalia wurde blass und war sprachlos. Nach einer langen Pause entschuldigte sie sich schüchtern. „Tut mir leid“, flüsterte sie.
Leonard wurde klar, dass Natalia ihre Mutter möglicherweise nie wieder sehen würde. Dennoch konnte sie sich an die Hoffnung klammern, dass sie eines Tages wiedervereint werden würden.
Aiden berührte leicht ihren Arm. „Schon gut. Das konntest du ja nicht wissen.“
Leonard merkte, dass nun wohl der richtige Zeitpunkt gekommen war, um jene Frage zu stellen, die ihn seit ihrer Fahrt in das Tal beschäftigt hatte, und klinkte sich in das Gespräch ein.
„Was ist hier passiert?“
Chester wischte sich mit der Handkante über den Mundwinkel und starrte Leonard an. Er zerkaute langsam einen Bissen Dörrfleisch, schluckte und legte seine Hände auf den Tisch.
„Was ist hier passiert?“, wiederholte der Mann kühl. „Wenn doch nur mehr Menschen Bescheid wüssten.“
Leonard spürte, dass es besser war, nichts zu sagen und wartete geduldig.
„Was in diesem Tal passiert ist, sollte in den Kopf jedes Mittelschülers in diesem Land gehämmert werden. Aber das Bildungsministerium wird sein Bestes tun, damit niemals auch nur der kleinste Informationsfetzen bezüglich der Auslöschung in öffentliche Schulen vordringt.“
„Ich würde gerne mehr darüber erfahren“, sagte Natalia.
Chester sah sie mit einer Spur Bewunderung an. Er nickte. Er starrte in die Ferne und sprach deutlich. „Kurz nachdem die Achtundzwanzigste Gesetzesänderung erlassen worden war, fingen die Menschen an, in die Gegend von Silverthorne–Breckenridge abzuwandern.“
„Welche war die Achtundzwanzigste Gesetzesänderung noch mal?“, unterbrach ihn Leonard.
Chester fixierte Leonard sofort mit seinen Augen. Verachtung überzog sein Gesicht. „Weißt du, wenn die Leute von Anfang an aufmerksamer gewesen wären, hätten wir uns eine Menge Qualen ersparen können.“
„Tut mir leid, ich—“
„Die Achtundzwanzigste änderte das Mindestalter für wählbare Amtspersonen. Abgeordnete konnten jetzt schon im Alter von zwanzig statt fünfundzwanzig gewählt werden. Senatoren mit fünfundzwanzig statt dreißig. Und der
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