Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
Züge und Schiffe voller Menschen – doch so konnten sie die Bewohner in die nächstgelegene Hauptstadt bringen. Colorado hat nur einen zentralen Ort und das ist der Großraum Denver.“
Leonard verarbeitete die Informationen schnell, in der Hoffnung, dabei nicht seine Faszination preiszugeben. Sozialwohnungen, Massenumsiedlungen und zahlreiche Tore und Mauern. Obwohl er das Ganze verabscheute, fand er das Ausmaß des Projektes beeindruckend.
„Als sie die Termine für die Evakuierungen bekannt gaben, sollte diese Gegend hier, Summit County, als Letztes dran sein“, erklärte er Natalia. Dann drehte er sich abrupt zu Leonard und fuhr ihn an: „Hattest du zu dem Zeitpunkt endlich was gemerkt?“
Leonard zuckte mit den Schultern. Es war sinnlos, vorzutäuschen, dass er eine Ahnung hatte, wovon er redete. Wenn er so tat, als ob er Bescheid wüsste, könnte Chester ihn abfragen und Leonard war nicht gerade besonders interessiert daran, erneut in den Lauf der Schrotflinte zu starren.
„Das dachte ich mir schon“, murmelte Chester. „Die Front Range kam zuerst. Dann Ost–Colorado. Schließlich, angefangen in Grand Junction, bewegten sie sich nach Osten über die Rocky Mountains, sie rollten über alles hinweg wie ein Bulldozer über eine Mülldeponie. Die Menschen, die nicht in den Zug steigen wollten, flohen hierher. Bis die Regierung die Grenze schloss, lebten schon über einhunderttausend Menschen in Summit County. Sie lebten mit zwei oder drei Familien in Eigentumswohnungen, oder in Zeltlagern, wo auch immer sie Unterschlupf fanden.“
„Also haben sie Grand Junction anfangs geräumt?“
„Ja, aber nach ein paar Monaten sind einige Gegenrevolutionäre wieder zurückgekommen, besonders Mechaniker und Computertechniker. Jemand warnte uns vor den Ortungssendern und ein Team aus Technikern und Ärzten organisierte MRT–Stationen in ganz Summit County. Ehemalige Leute vom Militär schmuggelten Waffen heraus und brachten sie mit nach Grand Junction. Sie wollten eine sicherere und technisch fortschrittlichere Gemeinschaft in Mesa County gründen. Wir hatten natürlich nicht genügend Platz, um alle hier in den Tälern aufzunehmen und wir wussten, dass das Evakuierungsprojekt schließlich bis zu uns vordringen würde.
Einige glaubten wirklich, das Ganze würde irgendwann vorbeigehen. Sie wollten die Sache einfach aussitzen. Wir befanden uns im letzten Jahr von Stehlens zweiter Amtszeit.“ Er seufzte. „Dann wurde natürlich die Neunundzwanzigste Gesetzesänderung erlassen und uns ins Gesicht geschleudert.“
An diese Gesetzesänderung konnte sich Leonard erinnern. „Aufhebung der begrenzten Amtszeit.“
Chester schüttelte missbilligend den Kopf, als ob dieses Bruchstückchen an Wissen keine Entschädigung für die Unmengen an Dingen war, die Leonard nicht wusste.
„Aber wann ist das hier passiert?“ Leonard deutete auf die verkohlten Ruinen, wobei er leider nur allzu gut wusste, dass sich die Verwüstung jenseits der Hütte der Familie Woods noch kilometerweit erstreckte.
„Vor fast vier Jahren, ein paar Wochen vor unserem festgelegten Evakuierungstermin im Dezember.“ Er betrachtete missmutig seine Hände. „Tausende von uns haben sich aufgelehnt und wollten bleiben.“
„Also habt ihr doch protestiert.“
„Kurz vorm Ende.“ Chesters Gesichtsfalten schienen plötzlich stärker ausgeprägt als noch vor einem Moment und ein Gefühl von tiefer Reue schwebte in der Luft. Er sagte lange nichts, bevor er wieder fortfuhr. „Die Staatsbeamten haben uns völlig überrascht, einhunderttausend Menschen lebten friedlich vor sich hin und kümmerten sich um ihre eigenen Angelegenheiten. Wir saßen auf dem Präsentierteller.
Sie kamen mit Hubschraubern und Kampffliegern und warfen ohne jegliche Vorwarnung Bomben auf uns ab. Wenn es den Stausee nicht gegeben hätte, da bin ich mir sicher, hätten sie auch einen kleinen Atomsprengkopf gezündet. Das hätte ihnen viel Zeit erspart. Nichtsdestotrotz hatten sie die Gegend innerhalb einer Stunde fast vollständig vernichtet. Die Bewohner waren entweder tot, rannten durch die Straßen oder versteckten sich in den Abwasserkanälen.“
Leonard sah zu Natalia hinüber. Sie zitterte. Aiden legte einen Arm um ihre Schulter.
„Dann landeten sie. Hubschrauber über Hubschrauber voller Soldaten. Sie schossen alles nieder, was sich bewegte, und zerstörten die wenigen Gebäude, die noch standen.“
„Wie seid ihr entkommen?“
„Eine kleine Gruppe von uns
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