Neun Zehntel (Deutsch) (German Edition)
abwesend.“ Das Mädchen trank einen Schluck Wasser und beobachtete ihren Vater neugierig über den Glasrand hinweg. „Aber in letzter Zeit bist du so anders.“
„Sie hat recht, Leonard. Ich bin schon fast versucht, dich nach deinen Höhepunkten zu fragen. Gibt es was Neues auf dem Stützpunkt? In den letzten Tagen warst du viel öfter Zuhause.“
Auf dem Stützpunkt. Was mache ich nur?
Draußen in der realen Welt reparierte und programmierte Leonard Computer. Er verbrachte die meiste Zeit Zuhause und hämmerte entweder auf seinen Laptop ein und schrieb clevere Codes oder er saß an seinem mit Lötzinn bedeckten Schreibtisch und bastelte an Elektrogeräten herum. Das Basteln und Experimentieren war ihm lieber.
Welchen Beruf habe ich in dieser Fantasiewelt? Bin ich Elektroingenieur?
Leonard sah einen Moment an die Decke, bevor er antwortete. „Ach, du weißt schon, Tests und so was, das Übliche halt. Nichts woran ich herumbastel, funktioniert so, wie es soll.“
Alina runzelte die Stirn und legte Gabel und Messer entschlossen auf den Tisch. „Hör auf damit. Erstens weiß ich nur allzu gut, dass du nicht über dein Projekt sprechen kannst und du solltest mittlerweile wissen, dass ich dich auch nie danach fragen würde.“ Sie sah sich im Raum um, als würde sie kontrollieren, ob sie jemand belauschte. Dann starrte sie Leonard an und zwar mit einem Blick, den er nur als Warnung deuten konnte. „Zweitens bastelst du nicht einfach nur herum. Du bist ein Genie.“
Er starrte sie an. „Ich… äh…“
„Ich will doch nur ein bisschen Klatsch und Tratsch hören.“ Ihre Augen funkelten. „Natürlich nichts streng Geheimes.“
Leonard runzelte leicht die Stirn und sah erst Alina und dann Natalia an. Das Mädchen trank einen Schluck Wasser, starrte auf ihren Teller und schüttelte missbilligend den Kopf. Dann sah sie ihren Vater an und verdrehte fast unmerklich die Augen. Als sie sich schließlich wieder ihrem Hackbraten widmete, hätte er schwören können, dass sie verstohlen nach links und rechts blickte.
„Wie dem auch sei“, fuhr Alina fort, „lass uns zu dem ,Was waren so deine Höhepunkte‘–Leonard zurückkehren. Der hat mir irgendwie besser gefallen.“ Sie lächelte herzlich. „Also Natalia, dein Vater hat dich nach deinem Tag gefragt. Gibt es einen Höhepunkt, den du mit uns teilen möchtest?“
Natalia sah nacheinander ihre Mutter und ihren Vater an. „Es ist eher ne Art Tiefpunkt. Kann ich euch auch von einem Tiefpunkt erzählen?“
Leonard streckte den Arm aus und berührte die Hand seiner Tochter. „Natürlich, Schätzchen. Du kannst uns alles erzählen, was du möchtest.“
Natalia lachte in sich hinein, aber ihre Stimme zitterte, als sie versuchte, ihn nachzuäffen. „Schätzchen. Du bist total gaga, Dad.“ Sie schauderte, während sie offensichtlich versuchte, einen Gefühlsausbruch zu unterdrücken. Sie starrte auf den Tisch, biss sich auf die Lippen, schloss die Augen und atmete tief durch. „Linda redet nicht mehr mit mir. Sie ignoriert mich jetzt schon seit ein paar Tagen.“
Alinas Gesichtsausdruck wurde einfühlsamer. „Das tut mir so leid, meine Süße.“
„Ich glaube, sie ist schwanger. Sie hängt mit anderen schwangeren Mädchen rum.“
Schwanger? Leonard musste sich zusammenreißen. Sein erster Impuls war, Natalia nach ihrem Alter zu fragen, aber er sah schnell ein, dass das keine gute Frage für einen Vater war; besonders, weil das Mädchen ihn eh schon verrückt und sonderbar fand. „Wie alt ist Linda?“, fragte er stattdessen.
Natalia starrte ihn wütend an. „Dreizehn, Dad. Zwei Wochen älter als ich, so wie schon immer, seitdem ich geboren bin.“ In den Augen des jungen Mädchens blitzten erst Traurigkeit und dann Zorn auf. Sie sah ihn finster an und schüttelte den Kopf. „Seitdem du angefangen hast für das ABV zu arbeiten, benimmst du dich, als wenn du im Koma gelegen hättest.“
„Natalia“, ermahnte Alina ihre Tochter, wartete, bis diese sie ansah, und hielt den Augenkontakt.
„Sorry, Dad. Ich weiß, dass du hart arbeitest.“ Sie zerdrückte ihre Erbsen mit der Gabel. Ein bedrückendes Schweigen lag in der Luft. Als Natalia wieder anfing zu reden, hörte sich ihre Stimme ruhiger an. „Ich geb dir einen kleinen Tipp, da du ja momentan scheinbar in einem anderen Universum lebst. Linda ist gerade erst dreizehn geworden.“ Sie sprach langsam und machte eine Pause, um sicher zu gehen, dass ihr Vater auch alles mitbekam. „Das bedeutet,
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