1378 - Wenn die Totengeister kommen
Ja, das war genau die perfekte Eingangsszene für den neuen Schocker. Sie hatte ihm noch gefehlt, während das Drehbuch ansonsten fertig geschrieben worden war. Zwei Seiten davor setzen, und die Sache war erledigt.
Er sah die Szene bereits vor sich. Die Leute im Kino würden vor Angst zittern, und wenn der Kameramann geschickt war, dann würde er die Szene aus verschiedenen Perspektiven aufnehmen und sie womöglich noch in Zeitlupe ablaufen lassen.
Diese Gedanken hatten Harry den letzten Kick gegeben. Er fuhr mit seinem Stuhl an der Breitseite des Schreibtisches entlang, bis er seinen Computer erreicht hatte.
Der Rest war nicht mehr als Handwerk. Er veränderte nichts mehr, er benötigte auch keine Kreativität. Er tippte das ab, was sein musste, und druckte die beiden Blätter aus. Dann heftete er sie in die Mappe zu den anderen Seiten.
Fertig!
Er schlug mit der Hand auf den Umschlag, rollte mit dem Stuhl nach hinten und lehnte sich zurück. Wenn man von einem zufriedenen Menschen sprechen konnte, dann hätte man nur ihn meinen können. Wieder mal hatte er ein Drehbuch fertig. Der Regisseur würde sich freuen, denn er war bereits dabei, die ersten Szenen zu drehen.
Ob der Streifen jemals in die Kinos kam, war fraglich. Eigentlich war er zu brutal, aber als DVD-Streifen würde er in den Videotheken zu kaufen sein. Zwar mehr unterhalb der Ladentheke, aber gerade hier brachten Filme mit Sex und Gewalt einen besonders guten Umsatz.
Jenkins wohnte in einem alten Haus Parterre. Sein Arbeitszimmer lag in einem Erker. Er liebte die Fenster, die fast bis zum Boden reichten und ihm einen perfekten Ausblick garantierten. Zudem hatte er das Glück, nicht auf eine belebte Straße schauen zu müssen, sondern in einen Park, der gegenüber lag. Er brauchte nur die Straße zu überqueren, dann konnte er in den Schatten der Bäume eintauchen.
Die Klimaanlage hatte er sich auf eigene Kosten in die Wohnung einbauen lassen. Bei diesem Wetter war es eine Wohltat, denn fast brutal war der Sommer über London hereingebrochen, obwohl man ihn fast schon abgeschrieben hatte.
Mal war es sonnig und warm, dann wiederum sehr schwül und drückend. Heute hielt sich alles die Waage, und Harry überlegte, was er jetzt unternehmen sollte.
Er hätte eine Freundin anrufen können, um mit ihr ein paar schöne Stunden zu verbringen, aber dazu hatte er keine Lust. An seinem Computer schaute er vorbei durch das Fenster, beobachtete den fließenden Verkehr, sah dahinter den Park und dachte an ein herrliches Bier, dass er sich gönnen wollte.
Genau das war es!
Harry hätte es sich aus dem Kühlschrank holen können. Darauf wollte er verzichten, das konnte er auch im Winter durchziehen. Es gab in der Nähe genügend Kneipen, die vor ihren Lokalen Tische aufgestellt hatten.
Ja, das war es!
Zwei Bier trinken, mit sich und der Welt zufrieden sein und sich über die gelungene Arbeit freuen.
Er hatte seinen Entschluss gefasst, drehte sich um – und hatte das Gefühl, ein Eisblock zu sein.
Vor ihm stand eine unheimliche Gestalt!
***
Im ersten Moment glaubte er an eine Täuschung. An eine Überreizung seiner Nerven, die ihm einen Streich gespielt hatten, denn diese Gestalt konnte es eigentlich nicht geben. Und doch war sie da, und sie kam ihm auch irgendwie bekannt vor, denn sie schien seinen eigenen Drehbüchern entsprungen zu sein. Sie war ein grauer Schatten. Eingehüllt in Tücher. Er sah von ihrem Körper nicht viel, aber die beiden skelettierten Krallenhände konnte er einfach nicht übersehen. Sie hingen nach unten wie alte Hühnerklauen. Nur waren sie das nicht, denn auf ihnen wuchs keine Haut.
Harry stockte noch immer der Atem. Er hätte nicht gedacht, dass er so lange die Luft anhalten konnte, aber er schaffte es. Erst als der Druck zu groß wurde, drang ein Stöhnen aus seinem Mund, und er kehrte wieder zurück in die Realität.
Der Autor zwang sich zur Ruhe. Er schloss die Augen. Konzentrierte sich für eine Weile nur auf sich selbst und hörte den eigenen Herzschlag ziemlich laut.
Dann schaute er wieder hin.
Die Gestalt war noch da, aber sie verschwand. Er hörte nichts. Er sah nur, wie sie sich auflöste und verging wie ein Nebelstreif in der Sonne. Dabei hatte er das Gefühl, als hätten ihm die Krallenhände noch ein letztes Mal zugewinkt.
Jenkins sprang nicht auf und rannte auch nicht weg. Er blieb auf seinem Stuhl sitzen und begann zu lachen. Er konnte nicht anders.
Nur so konnte er seinen Schrecken überwinden, und er
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