Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
tapeziert war, und bestellten zunächst eine Feuerzangenbowle, später Punsch und Glühwein. Als wir uns schließlich kichernd voneinander verabschiedeten, waren wir beim Du angelangt.
In der Nacht schlief ich leicht, und im Traum |72| schwebte ich über einem blühenden Mohnfeld, das kein Ende zu nehmen schien und Hügel und Täler bedeckte. Die Welt unter mir stand in Flammen, und als ich aufwachte, wusste ich mit einem Mal, an wen die Mohnblüte mich erinnerte: Irgendwo in der Toskana gab es eine kleine Kirche, und in dieser Kirche hing das Bild einer mittelalterlichen Madonna, und das war sie.
Am Sonntag kam ich wenigstens nicht in Verlegenheit, mich vor Ruth rechtfertigen zu müssen. Kein Sonntagsdienst, ich war frei.
Am Tag zuvor hatte Mutter aus Kalabrien auf den Anrufbeantworter gesprochen: Sie stand an der Autostrada del Sole und wartete auf den Pannendienst; ihr Truck gab keinen Muckser mehr von sich. So hielt sie die Gelegenheit für gekommen, mir zu sagen, dass sie an Weihnachten eine Tour in die Türkei machen und Heiligabend wie gewohnt auf der Autobahn verbringen würde. Sie klang zufrieden, und sie fragte mich, ob ich nicht Lust hätte mitzufahren.
Am Sonntag um vier Uhr – ich saß noch im Bett, einen ungewöhnlich starken und ungewöhnlich großen Kaffee in Händen – dachte ich über diese Möglichkeit nach. Heiligabend auf einem türkischen Brummiparkplatz war nicht unbedingt das, was ich mir erträumt hatte, aber vielleicht immer noch besser als allein die stummen Wände anzustarren. Zu Vater und Hannelore |74| würde ich jedenfalls nicht gehen; zwischen Sofakissen zu sitzen, die exakt mittig eine Falte aufwiesen, den Römer mit Spätburgunder in der Hand, und als Highlight die Weihnachtsansprache der Bundeskanzlerin im Fernsehen anzuschauen, hätte ich nicht verkraftet. Oder nur, wenn ich Hannelore den Spätburgunder über den Kopf hätte schütten dürfen.
Der Regen rauschte aufs Oberlicht, ich zündete die grüne und die pinkfarbene Kerze am Gewürzkranz an, löschte mein Nachttischlicht und saß noch eine Weile so da, lauschte den Tropfen und betrachtete die Schatten der Kerzen an der Wand. Nein, dachte ich, ich werde nicht fortfahren. Ich werde mich hier einigeln, die Kerzen am Kranz anzünden, alle vier, und es mir gemütlich machen, so gut es eben geht. Es musste doch möglich sein, einen Heiligabend zu Hause zu verbringen und trotzdem guten Mutes zu sein. Ich war inzwischen siebenunddreißig Jahre alt; irgendwann musste ich damit beginnen, diesen Abend in meinen eigenen vier Wänden zu verbringen. Bilder aus meiner Erinnerung zuckten auf: Weihnachten in Malaga, Palermo, Istanbul, Düsseldorf-Mettmann bei Vater und Hannelore.
Mir war ein wenig unbehaglich zumute, als ich in völliger Dunkelheit den Friedhof betrat |75| und das einzige Geräusch das meiner eigenen Schritte im Kies war. In diesem Teil des Friedhofs brannte nur eine einzige Laterne, die die Szenerie in ein orangefarbenes Licht tauchte. Ich verlangsamte meinen Schritt und lauschte. Leise raschelten ein paar trockene Blätter. Am Abend vorher hatte ich die Atmosphäre hier als friedlich empfunden, doch jetzt spürte ich eine Beklemmung, die mein Herz zum Hämmern brachte. Sämtliche Krimis und anderer Unrat, den ich in meinem bisherigen Leben konsumiert hatte, drängten sich in mein Bewusstsein, und ich verfluchte die Momente, in denen ich nach dem nächsten Thriller gegriffen hatte, der arglose Frauen offenherzig über grauenhafte Serienmorde aufklärte. Und was war mit der Realität? Schließlich gab es diese schrecklichen Dinge! Ich stockte abermals. Doch was sollte ich Sami erzählen? Dass ich Bammel bekommen hatte, weil ich glaubte, Jack the Ripper hätte es auf mich abgesehen? Ich schüttelte unwillig den Kopf und schritt energisch aus. Das war ja alles zu lächerlich! Und so einen Unsinn konnte ich ihm wohl kaum auftischen.
Ich stellte mich wieder neben die große Eibe und begann zu warten. Bei jedem Knacken und Knistern, Rascheln und Rauschen fuhr ich zusammen, und meine Stirn und mein Rücken |76| waren bald von einem Schweißfilm bedeckt. Ich begann die Dämmerung herbeizubeten, doch es war erst kurz nach halb sechs und sie würde noch auf sich warten lassen. Plötzlich hörte ich ein Geräusch, entfernt noch, undefinierbar. Was war das? Ich lauschte angestrengt, hielt den Atem an. Schritte, das waren Schritte, die immer lauter wurden. Schritte, die sich näherten! Ich blickte mich um, aber hinter mir
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