Venusblut - Schreiner, J: Venusblut
Prolog
Selbst im Traum hatte sie Angst! Und die Fangzähne des Mannes boten auch jeden Anlass dazu, obwohl seine bloße Anwesenheit gleichzeitig ganz andere Gefühle in ihr auslösten. Nie zuvor hatte sie sich so ambivalent gefühlt, so zerrissen von ihren eigenen Emotionen und Wünschen. Ihr gesamter Körper verlangte auf der instinktiven Ebene ihrer Urtriebe nach schneller Flucht, während ihre Libido ihr sinnliche Schauer über die Haut jagte, in gespannter Erwartung ausharren wollte und jeden ihrer Muskeln lähmte.
Immer noch konnte sie das Gesicht des Unbekannten nicht wahrnehmen, beinahe, als hätte er es aus ihrem Verstand verdrängt oder ihr eigenes Gehirn eine Visualisierung verboten. Seine gesamte Gestalt schien mit der Dunkelheit zu verschmelzen, zu Nacht und Finsternis zu werden, form- und gesichtslos, ein bloßer Schatten. Trotzdem erschauerte sie lustvoll, als seine Zähne, bereit zu einem Biss, über ihre Haut strichen. Die Berührung war überraschend sanft, überwältigend sinnlich, und noch während sich ihre verbleibende Logik gegen die Erkenntnis stemmte, begriff sie die schlichte, unausweichliche Wahrheit: sie würde diesen Kampf verlieren. Und zwar mit Freuden!
Sie hob ihre Hände, um den Mann fortzuschieben, doch ihre Finger, kleinen Verrätern gleich, flochten sich in seine schattenhaft-finsteren Haare und zogen ihn näher, luden ihn dazu ein, sich in jedweder Form an ihr zu laben und intuitives Wissen rieselte durch ihre Adern. Seit jeher hatte sie gewusst, dass diese Nacht kommen würde, hatte auf sie gewartet und gleichzeitig auf eine Realität ohne Vampire gehofft. Doch dieser nächtliche Schatten hatte sie verfolgt, seit sie denken konnte, hatte ihre Tagträume bestimmt und war doch immer knapp außerhalb ihrer bewussten Reichweite geblieben, doch zum Greifen nahe und hatte sich immer wieder als Prophezeiung in ihr Leben geschlichen. In Büchern, Filmen oder Serien war er aufgetaucht, immer nur für den Bruchteil einer Sekunde,eine gesichtslose Andeutung ihrer eigenen Fantasie; nie hatte sie sich wirklich erinnern können, nie ihn identifizieren.
Wieder konnte sie seine Zähne an ihrem Hals spüren, dieses Mal genau an der Stelle, an der das Blut in Synkopen durch ihre Halsschlagader klopfte, und dieses Mal wusste sie trotz ihrer Libido, dass es nicht das unwillkommene Verlangen war oder der penetrante anhaltende Fluchttrieb, die sie wirklich störten. Der nagende Fakt war viel realer und führte zu einer simplen Erkenntnis: Es war Traum!
Sie schreckte aus dem fremden Traum und ihrer liegenden Position hoch in eine sitzende, mit geöffneten Augen, nahm ihre Umgebung wahr, Gerüche, Geräusche, Bilder und blinzelte verwirrt … und blinzelte noch einmal. Doch der Anblick änderte sich nicht. Ein Terminal voller Menschen, die geschäftig oder beschäftigt hin und her liefen; Koffer wurden geschoben, gezogen, oder abgegeben, Aufzüge fuhren nach oben oder unten, Besucher wimmelten in kleinen Ladengeschäften oder nutzten Rolltreppen, um an den gewünschten Ort zu gelangen. Eine große Schautafel vor ihr änderte just in diesem Moment seine Anzeige, blätterte den Flugplan in die aktuelle Position und erstarrte anschließend.
Abermals blinzelte die Frau und abermals änderte sich … nichts. Sie war und blieb in einem Flughafengebäude.
Trotzdem sah sie an sich herab, nur um sicher zu gehen, dass sie kein Nachthemd trug und nicht in ihrem Bett lag. Erst jetzt stellte sie fest, dass sie saß, sich schlaftrunken auf einer Stuhlreihe aufgerichtet haben musste. Dankbar registrierte sie, dass sie Jeans und Schuhe trug, und eine blaue Jacke, die ihr gänzlich unbekannt war. Einen Moment später erwischte sie sich dabei, wie sie irritiert ihre eigenen Hände ansah und sich fragte, wann sie die Fingernägel rot lackiert hatte und wer ihr diesen grässlichen, silbernen Ring geschenkt haben mochte, der ganz sicher nicht ihrem Geschmack entsprach. Erst dann fiel ihr auf, dass sie diese Fragen nicht beantworten konnte. Nicht nur die Jacke war ihr unbekannt, auch die roten Fingernägel und der Ring. Dass sie sich auch noch mitten in einem belebten Flughafengebäude aufhielt, nicht wusste, wie sie dorthin gekommen war, oder was sie an diesem Ort sollte, rundeten nur das Gesamtbild ab. Hauptfakt Nummer eins war: Sie hatte keine Ahnung, wer sie überhaupt war!
Schockiert hob sie die Hände mit den viel zu roten Nägeln und dem grässlichen Ring vor ihr Gesicht und versuchte die Fakten auszublenden.
Weitere Kostenlose Bücher