Neunerlei - eine Weihnachtserzählung
drückte sie mir ebenfalls einen Fladen in die Hand. Ich zögerte nur kurz, bevor ich mich der gelben Masse näherte. Was Essen angeht, bin ich nicht besonders experimentierfreudig; am liebsten esse ich Buletten mit Kartoffelsalat oder Wiener Schnitzel mit Pommes. Ich fühlte Katharinas Blick auf mir.
Na ja, dachte ich, in meinem Badschränkchen liegen ja noch Kohletabletten. Ich musste die Augen unwillkürlich aufreißen – es schmeckte gut!
Beim Couscous fragte mich die Mohnblüte: »Ich will nicht neugierig erscheinen, aber verraten Sie mir, was es mit den Gewürzen auf sich hat, die Sie mir gebracht haben?«
Ich nahm noch einen Löffel Couscous.
»Aber das habe ich doch bereits. Ich habe sie von einem Grab.«
»Von einem Grab?«
»Ja, von einem Grab.«
Fleischbällchen kamen und wir halfen ihnen, wieder zu verschwinden, desgleichen gegrillte Auberginen, Tomaten und Salate, und in den Kaupausen erzählte ich Katharina die ganze Geschichte, die sie mit runden Augen verfolgte. |64| Als wir alles aufgegessen hatten und nichts mehr nachkam, begann Katharina erneut, Tannennadeln aus dem Gesteck zu zupfen und in die Flamme zu halten. Unsere Unterhaltung wurde immer lebhafter, und am Ende überboten wir uns gegenseitig mit den wildesten Vermutungen und schmiedeten Pläne: Wir würden das Geheimnis lüften!
Auf dem Nachhauseweg schritten wir unter den elektrischen Weihnachtssternen hinweg, vorbei an Lichterketten in Schaufenstern und Bäumen, in denen rot leuchtende Herzen und Schneemänner hingen. Vor der Apotheke blieben wir noch lange stehen und redeten. Die Buden des Weihnachtsmarktes waren mit Brettern verrammelt und es waren nur noch wenige Leute unterwegs. Am Schluss gaben wir uns die Hand, wie zwei altmodische Kinder, die eine Bande gegründet hatten. Vielleicht auch deshalb, weil wir nicht wussten, was wir sonst hätten tun sollen. Und so verschwand die Mohnblüte in der Haustür rechts neben der Apotheke und ich links davon.
Für Ruth gab es im Leben nur zwei Kategorien: guten und schlechten Sex, was sie schlicht als S+ und S- bezeichnete. Das und ihre darüber hinaus ziemlich eingeschränkte Sicht auf die Dinge – speziell auf die Dinge, die zwischen einem Mann und einer Frau geschehen oder nicht geschehen konnten – ließen mich schweigen wie ein Grab.
Am Anfang ihrer Tätigkeit in der Apotheke hatte Ruth mich oft mit ihren Männergeschichten beglückt, die sie stets in Kategorie eins (S+) oder sechs (S-) einordnete; Zwischennoten gab es nicht. Das und die Anwendung der »Attraktivitätsskala« (eins bis zehn – »Letzte Nacht war ich mit einer Neun zusammen!«) hatte mich derart befremdet, dass ich mich nach zwei Wochen gezwungen sah, mich bei ihr zu erkundigen, was genau das eigentlich sei, S+ und S-, und ob es dabei hauptsächlich um Leibesübungen nach Turnvater Jahn ging. Seitdem erzählte sie nichts mehr aus ihrem Liebesleben. Und ich wollte |66| auch nicht Ruths Meinung zu meinem hören. Schließlich hatte ich nach einer Verabredung mit einem Mann weder S+ noch S- vorzuweisen, und vermutlich hätte Ruth befürchtet – und sich nicht entblödet, diese Befürchtung in Worte zu kleiden –, dass
etwas
nicht in Ordnung sei (mit ihm oder mit mir, wahrscheinlich Letzteres).
Ich erinnere mich noch heute lebhaft daran, wie ich jeden Abend heimlich den Gewürzkranz in meine Wohnung schleppte, um ihn frühmorgens wieder auf der Theke zu platzieren. Ich wollte ihn jede Minute um mich haben.
In jener Nacht schlief ich schlecht, und am frühen Morgen holte ich mir einen Kaffee, machte Feuer in meinem Kachelofen, einem alten Grundofen aus dem Jugendstil, der zwar langsam anheizte, aber nach drei bis vier Stunden eine solche Wärme zu verbreiten begann, dass man die äußere Kleidungsschicht abstreifte und nach weiteren Stunden unweigerlich in Unterhose und Unterhemd dasaß.
Ich heizte also den Ofen an und setzte mich mit meinem Kaffee an den Computer. Ich suchte nach Einträgen über Gewürze, nach Hinweisen auf geheimnisvolle Rituale in Zusammenhang mit einem Grab, aber ich fand nichts.
|67| An diesem Tag – es war bereits später Nachmittag und ich hatte so manches Gespräch über Erkältungskrankheiten hinter mich gebracht – legte ich die Geschicke der Apotheke erneut in Ruths Hände, entschuldigte mich und schlug den vertrauten Weg am Mühlenbach entlang ein.
Der Antiquar lächelte mir mit den Augen zu, sein krauslockiges Haar stand wie ein grauer Heiligenschein um seinen Kopf, er
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