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Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Neunerlei - eine Weihnachtserzählung

Titel: Neunerlei - eine Weihnachtserzählung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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schleppte schweigend einen Stapel Bücher herbei und legte ihn auf den Tisch, auf dem er besondere Exponate präsentierte. Ich blätterte die Bücher grob durch, nickte und fragte: »Haben Sie schon einmal von einem Ritual gehört, bei dem man Gläser mit Gewürzen auf ein Grab stellt?«
    Langsam schüttelte er den Kopf, sein Lächeln war verschwunden.
    »So ein Buch suche ich, über Gewürze und Rituale.«
    Er griff nach einem Bleistiftstummel, kritzelte ein paar Wörter auf einen Block, wobei er sich tief hinunterbeugte. (Offenbar war er noch kurzsichtiger als ich.)
    Er blinzelte. »Ich werde danach Ausschau halten«, verkündete er feierlich. Ich bezahlte die Bücher und verließ den Laden. An der Apotheke schlich ich auf Zehenspitzen vorbei und steuerte |68| den Hintereingang an. Unglücklicherweise stand Ruth in dem Moment am Fenster unserer Giftküche.
    »Das ist ja allerhand«, schnauzte sie, und als ihr Blick den Stapel Bücher in meinem Arm streifte, legte sich ein wissender Glanz auf ihr Gesicht. »Daher weht also der Wind!«
    »Wenn du auch nur eine Andeutung machst, verrate ich dem alten Jahnke deine Adresse.«
    Mit diesen Worten zog ich an ihr vorbei, hocherhobenen Hauptes, ohne mich noch einmal nach ihr umzusehen.

Obgleich ich ein vom Pech Verfolgter war, versuchte ich das Beste aus meinem Leben zu machen. Das war nicht leicht, zumal über allem die Gewissheit schwebte, dass mich schon meine Mutter nicht hatte haben wollen und kurzerhand in die Babyklappe steckte. Im Kinderheim ging es so weiter, und immer, wenn der eine oder die andere adoptiert wurde, fragten die Verbliebenen sich – zu denen ich bis zum Schluss zählte   –, warum sie nicht auch eine Familie bekamen. Nicht einmal eine Pflegefamilie hatte mich haben wollen. Das war das eine. Und nur weil ich in meiner Magisterarbeit die Trivialliteratur thematisiert hatte, steckte ich nun selbst bis zum Hals darin fest, statt gute oder wenigstens mittelmäßige Literatur zu produzieren. Das war das andere.
    Aber damit war es nicht genug. Wenn auf einer breiten Straße eine fiese Glasscherbe mit der scharfen Seite nach oben lag, so fand ich sie, um darüberzufahren. Wenn ich im Winter in einem |70| Hotel übernachtete, so fiel für diese eine Nacht die Heizung aus. Und wenn ich mich an einem sommerlichen Frühlingsmorgen leicht und luftig kleidete, um einen langen Spaziergang zu machen, so schlug das Wetter gewöhnlich dann um, wenn ich mich an der am weitesten entfernten Stelle befand. Diesem ungeschriebenen Gesetz folgend regnete es an jenem Samstag, dem 16.   Dezember, in Strömen. Aber nur am Vormittag.
    Katharina und ich hatten beschlossen, uns die Schicht zu teilen. Ich übernahm die Zeit von fünf Uhr an, sie würde mich mittags ablösen und bis sieben Uhr abends die Stellung halten.
    Als ich mich im Dunkeln mit einem Schirm über mir in jenen Teil des Friedhofs begab, fühlte ich mich albern, doch ich unterdrückte das Gefühl; ein Plan war schließlich ein Plan. Und
so
lächerlich war das Ganze ja auch nicht. Irgendwer hatte die Gläschen schließlich dort deponiert, auf dem Grab eines Namenlosen, in einem vergessenen Teil des Friedhofs. Eigentlich – und im Gegensatz zu meiner persönlichen Glücksstatistik – rechnete ich damit, die Person rasch zu stellen, und aus diesem Grund hatte ich mich für das Unterfangen zu leicht gekleidet. Ich fror.
    Ich fror, als das erste Grau durch die dichten Bäume sickerte und die Konturen der Gräber |71| aus dem Schwarz herauszumeißeln begann. Ich fror, als meine Zehen zunächst nass und dann steif wurden. Und ich fror immer noch, als gegen halb zwölf eine fahle und kraftlose Wintersonne die Regenwolken verdrängte und die Mohnblüte mich ablöste, mit vor Aufregung lichtblauem Glitzern im Blick und Wangen, die an sonnengereifte Pfirsiche denken ließen. Eine Weile lang leistete ich ihr Gesellschaft, wobei wir darauf achteten, uns hinter einer Eibe zu halten, um dem Gewürztreiben auf keinen Fall im Wege zu stehen. Als ich mich verabschiedete, waren auch meine Finger steif und die Zehen taub.
     
    Gegen sieben Uhr abends erreichte mich ihr Anruf: Auch die Mohnblüte hatte den geheimnisvollen Boten nicht zu Gesicht bekommen, und nachdem wir eine Stunde telefoniert hatten, sagte sie, auf der Straße unter ihr werde nun schon zum dritten Mal ›Jingle Bells‹ gespielt, und ich erwiderte »Bei mir auch«. Fünf Minuten später trafen wir uns am Glühweinstand, der mit Bildern von Heinz Rühmann

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