Neva
Regierung angefordertes Baby heranwächst. Ich schaudere.
»Sanna«, flüstere ich in ihr Ohr.
»Ja.« Sie klingt schlaftrunken.
»Bist du okay?« Eine dumme Frage. Natürlich ist sie das nicht. Keiner von uns ist okay oder ist es je gewesen.
Sie rutscht näher an die Bettkante heran.
Ich will sie nicht drängen. »Gute Nacht, Sanna.«
Sie dreht sich auf den Rücken. Sieht Braydons Masken an. Ihre künstlichen Mienen wirken entsetzt, so, als hätten sie miterlebt, was Sanna durchmachen musste und was ich getan habe. Nebeneinander liegen wir da und betrachten blinzelnd die Gesichter, die uns aus leeren Augenhöhlen anstarren.
Ich habe keine Ahnung, wo Braydon ist. Er hat uns ein bisschen Raum gegeben. Ich kann es kaum ertragen, im gleichen Zimmer mit Sanna und ihm zu sein. Meine Verbundenheitsgefühle zerren mich in zwei entgegengesetzte Richtungen, mein schlechtes Gewissen wächst ins Unermessliche. Ich kann sie beide doch nicht einfach so verlassen! Sanna weigert sich, Braydon in die Augen zu sehen. Braydon wollte mit ihr reden, aber sie hat nur etwas gemurmelt und ihn stehen lassen. Ich wünsche ihn mir her, damit er mich hält und in der Wirklichkeit verankert. Mein Leben hat keine Grenzen mehr, keine Protektosphäre, die mich erdet.
»Nev? Bist du noch wach?«, fragt Sanna.
»Ja.«
»Ich …«, beginnt sie, vergisst aber offenbar, was sie sagen will.
Ich warte.
»Ich kann mich nicht erinnern. Ich weiß, dass die Polizei mich verhaftet und weggebracht hat. Dann ist alles weg, bis zu dem Moment, als du mich geweckt hast.« Sie lässt ihren Blick über die Masken gleiten. Es kommt mir vor, als wollten sie sprechen, als wollten sie unsere Geschichte erzählen. »Ich fühle mich wie eine von Braydons Masken.«
»Vielleicht ist es nur gut, dass du dich nicht erinnern kannst.« Sie muss es nicht erfahren. Nicht jetzt. Vielleicht, wenn sie wieder bei Kräften ist.
»Ja.« Sie kuschelt sich tiefer unter die Decke. »Braydon war toll, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ein echter Held.« Sie seufzt.
Tränen rollen aus meinen Augenwinkeln, rinnen über meine Schläfen und in meine Ohren. Ich versuche, nicht daran zu denken, was als Nächstes geschehen könnte. Im Augenblick sind wir in Sicherheit, und das ist alles, was zählt. Ich schniefe und wische mir die Augen am Kissen ab. Ich habe in einem sorgsam konstruierten Lügengebäude gelebt, Sanna soll ruhig noch ein Weilchen länger darin bleiben dürfen. Ich jedenfalls bin sehr viel glücklicher gewesen, als ich noch nichts gewusst habe.
Sie scheint eingeschlafen zu sein, und ich will sie nicht stören. Ich will, dass sie alles vergisst, was in den letzten Tagen geschehen ist. Und ich hoffe inständig, dass sie unseren Streit vergessen hat.
»Nev«, flüstert Sanna. Ihre Stimme überrascht mich.
»Ja«, murmele ich und tue so, als hätte ich geschlafen.
»Ich verzeihe dir«, sagt sie.
Das ist mehr, als ich mir erhofft habe. Ein Schluchzen steigt in meiner Kehle auf, doch ich schlucke es hinunter. Ich verspüre einen Schmerz in der Mitte meiner Brust. Sie packt meine Hand und zerquetscht sie fast.
Ich muss hier raus. Selbst der Tod wäre besser, als liegen zu bleiben und die Hand der besten Freundin zu halten, obwohl ich ihren Freund begehre. Aber ich muss nicht mehr lange mit diesen Lügen leben. Nur noch bis Mitternacht.
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29 . Kapitel
I ch bin erschöpft und kann trotzdem nicht schlafen. Das Licht zieht sich mit der einbrechenden Dämmerung aus dem Haus zurück. Sanna hält noch immer meine Hand, schnarcht aber bereits leise vor sich hin. Wann immer ich meine Augen schließe, bin ich wieder im Frauen-Motivationszentrum. Spüre, wie die Ärztin mich untersucht. Sehe Nicolines vertrauensvolles Gesicht. Meine Augen öffnen sich. Behutsam löse ich meine Hand aus Sannas. Sie greift fester zu und dreht sich mir zu, doch ihre Lider bleiben geschlossen. Ich versuche es erneut. Dieses Mal ziehe ich meine Finger nur ein winziges Stückchen zurück, warte ab und zähle bis zwanzig, bevor ich das nächste winzige Stückchen in Angriff nehme. Ich bin ganz darauf konzentriert, mich zu befreien. Sie holt tief und gleichmäßig Luft. Ich zähle im Rhythmus ihrer Atemzüge und beschließe, mich nur beim Ausatmen zu bewegen. Es ist mühsam. Als ich endlich meine Hand zurückgezogen habe, dreht sie sich von mir weg. Ich halte ein paar Minuten inne, bevor ich mich aufsetze, und noch eine Weile, bevor ich meine Füße über die Bettkante schwinge.
Mein erster Impuls
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