Neva: Tag der Befreiung
Straße hinabjagt. Vor dem Grabstein seiner Mutter sinkt sie auf die Knie. Ihre Wangen sind gerötet, aber da ist noch etwas. Er blinzelt und sieht eine S-förmige Narbe.
Dummes Mädchen , denkt er. Er hat sie schon tausendmal gewarnt. Heb dich nicht von der Masse ab. Aber sie ist eine blinkende Neonreklame in einer Welt, die nur durch nackte trübe Glühbirnen erhellt wird. So war sie schon immer gewesen. Vielleicht meint sie, sie habe nichts zu verlieren. Vielleicht weiß sie nicht mehr, wie es ist, wenn man Familie hat, die einen erdet – keinen Vormund, keine Pflegeeltern, sondern zwei Menschen, die dein Erbgut teilen und jeden deiner Schritte beobachten, als seist du gleichzeitig zerbrechliche Ballerina und Naturwunder. Vielleicht ist es besser, dass sie sich nicht mehr erinnern kann, wie ihr Dad ihnen auf ihrem Schulweg in einem halben Block Entfernung heimlich folgte, um auf sie aufzupassen, und wie sie oft in der Nacht aufgewacht waren und bemerkt hatten, dass ihre Mutter durch den Türspalt über ihren Schlaf wachte.
Er wünscht sich, er hätte ihr all diese Erinnerungen als eine Art Bausatz geben können. Sie hätte sich hinter ihnen verbergen, unter ihnen Schutz suchen oder sie einfach in die Hand nehmen können, um sie eingehend zu betrachten und jede Einzelheit in sich aufzunehmen.
Sanna schiebt sich die Rollen Klebeband wie Armreifen über das Handgelenk. Sie dreht sie, immer ein Stück weiter, bis sie die Einkerbung im Silbergrau entdeckt. Zwei gekreuzte Linien – ein X. Der Anfangsbuchstabe des Namens ihres großen Bruders. Sie hat es gewusst. Sie hat gewusst, dass das Band von Xander gekommen ist. Sie küsst den Buchstaben.
»Danke«, flüstert sie.
Sanna lächelt, und das S auf ihrer Wange verschiebt sich. Er spürt, wie die Verbindung zwischen ihnen sich plötzlich strafft wie der Strick zwischen einem Boot und dem Kai. Sein Herz schwillt mit einem Mal an, als wolle es explodieren. Der Schmerz ist stark, fast unerträglich.
Die Kirchenglocke erklingt, und Sanna rennt den Hügel wieder hinauf. Er folgt ihr in sicherem Abstand. Sie hat keine Ahnung, was ihr Akt der Rebellion – eine Dunkelparty – vielleicht auslösen kann. Sie hält es für ein Spiel, aber die Regierung spielt nicht. Es gibt so vieles, was er ihr sagen müsste, aber sie hört nie zu. Sie sind einander viel zu ähnlich.
Xander spürt, wie die Wurzeln, die ihn hier halten, sich noch tiefer in den Boden von Heimatland bohren und sich dort verankern, während er zusieht, wie seine Schwester darauf zuläuft, nicht davon.
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Mehr von Sara Grant
Wenn Ihnen die Abenteuer in Heimatland gefallen haben, dann lesen Sie doch den Roman »Neva« von Sara Grant
ISBN eBook 978-3-426-40884-1
ISBN print 978-3-426-28348-6
Über Sara Grant
Sara Grant wurde 1968 im amerikanischen Bundesstaat Indiana geboren, wo sie Journalistik und Psychologie studierte, bevor sie ihrem Mann nach London folgte; dort arbeitet sie bei einer Literaturagentur.
Über dieses Buch
In Heimatland versucht man besser nicht aufzufallen, denn die unter einer Glaskuppel gefangene Nation wird von einer eisernen Regierung kontrolliert. Deshalb ist es fast schon ein gefährliches Abenteuer, als Ruth und ihre Freundinnen es wagen, sich zu den jährlichen Feierlichkeiten des »Befreiungstages« ihr Haar bunt zu färben. Doch dann wird jemand auf Ruth aufmerksam, der ihr Leben für immer verändern wird …
Zwei aufregende neue Geschichten aus der faszinierenden Welt von »Neva«!
Impressum
Die amerikanischen Originalausgaben erschienen 2011 unter den Titeln »Liberation Day« und »Resistance«
eBook-Ausgabe 2012
© 2011 Sara Grant
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2012 Knaur eBook
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Übersetzung: Kerstin Winter
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: FinePic ®, München
ISBN 978-3-426-42000-3
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