Nevermore
verheißungsvolles, ungleichmäßig glimmendes Licht, das weit entfernt auf der Steinwand tanzte, lockte sie durch die pechschwarze Dunkelheit. Die Schultern frierend hochgezogen, tastete Isobel sich an der unebenen, rauen Wand entlang. Irgendetwas knirschte unter ihren Füßen, aber Isobel zwang sich, nicht hinzusehen. Sie wollte sich nicht einmal vorstellen, was da den Boden bedeckte.
Sie trat in einen schwachen Lichtkegel, der einen brückenförmigen Gangabschnitt erhellte. Isobels Augen folgten dem schwachen orangegelb flackernden Licht bis zu seiner Quelle - eine Fackel beleuchtete ein weites, offenes Katakombengewölbe. Dort, weit unten, in völliger Abgeschiedenheit, arbeitete ein Mann. Er hatte seinen Umhang und seinen Mantel abgelegt und war damit beschäftigt, einen breiten schwarzen Torbogen mit Backsteinen zuzumauern.
Ein Klirren wie von Ketten ertönte aus dem Loch. Und das Klingeln von Glöckchen - Isobel erstarrte. Ihre Augen weiteten sich, als ihr klar wurde, dass da jemand in der Nische war. Sofort erinnerte sie sich an die Unterhaltung der beiden Männer, die sie mitangehört hatte, als sie durch die Tür getreten war, die sich später in die schwarze Uhr verwandelt hatte. Einer von ihnen war mit einer Maske und einem Umhang bekleidet gewesen und … hatte der andere nicht eine Mütze mit Glöckchen getragen?
Der Mann, der das Loch zumauerte, hielt mit einem Ziegelstein in der Hand inne. Langsam drehte er sich um, bis sich ihre Blicke trafen. Isobel schnappte nach Luft, wich zurück und stürzte dann Hals über Kopf davon.
Sie rannte, ihre Schritte hallten wie Schüsse zwischen den Steinwänden wider. Hinter der nächsten Ecke, am Ende des Gangs, sah Isobel ein sanftes blaues Licht. Es strömte durch einen offenen Torbogen und sie lief darauf zu. Plötzlich rutschte sie auf irgendetwas aus, stolperte und schlug auf dem Steinboden auf. Staub wirbelte durch die Luft.
Durch das Licht wurden ihre schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Knochen und Asche übersäten den Boden.
Ihre Finger bohrten sich in das Geröll, als sie sich hochdrückte und hinkniete. Nein, Moment. Das sind gar keine Knochen.
Isobel ließ ihre zittrigen Finger unter etwas gleiten, das wie eine Schädeldecke ausgesehen hatte. Es war ein aus einem Porzellangesicht herausgebrochener Splitter - die Rundung der Wange war deutlich zu erkennen. Alle anderen Stücke waren ähnlich leicht zu identifizieren. Abgebrochene Finger lagen wie winzige Grabsteine in der Dunkelheit verstreut. Hier die Hälfte einer Hand, dort ein Teil von einem Arm. Ein Kiefer. Ein Ohr.
Isobel warf den Splitter zur Seite, stand auf, wischte sich die Hände an ihrem schmutzigen Kleid ab und ging weiter den Gang entlang. Schließlich hatte sie den blauen Lichtkegel erreicht. Sie schlüpfte unter dem schmalen Torbogen hindurch, trat über die Schwelle, stieg eine Stufe hinunter und fand sich plötzlich in einer weitläufigen Marmorkrypta wieder.
Blaugraues Licht ergoss sich von briefumschlaggroßen Fenstern trichterförmig bis zum Boden. In der Krypta roch es trocken und scharf, wie nach versengtem Papier. Von Marmorplatten, die die vier hohen Wände säumten, starrten zahllose zerbrochene Gesichter blind auf Isobel herunter. Weitere Gliedmaßen lagen wie die Überreste aussortierter Marionetten in den Ecken verstreut.
Eine Eisentür stand halb offen. Sie war mit blauem Glas hinterlegt und bildete die Quelle des saphirblauen Lichts, das wie ein hauchdünner Stoff über das Herzstück der Krypta fiel - eine erhöhte, steinerne Grabstätte. Auf ihr lag eine aus poliertem Marmor gemeißelte, wunderschöne Frauenfigur. Ihre Augen waren im Todesschlaf geschlossen und ihre kalten, steinernen Hände umfassten ein ebenso starres Rosenbouquet.
Isobel hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen. Es war aus der Dunkelheit heraus aufgetaucht und hatte Varen mit sich gerissen.
Das Haar der Frau lag ausgebreitet um ihren Kopf. In langen, lockigen Ranken fiel es seitlich über den Sarkophag. Ihr Marmorkleid, schwer und fließend wie das Krönungsgewand einer Königin, ergoss sich zu beiden Seiten des Grabmals, während die reich verzierte Schleppe in sanften Falten die Treppe, die vom Sockel hinaufführte, herabwogte. Die Falten und endlosen Kräuselungen in dem Marmorgewand vermittelten die Illusion von weichem Stoff und das Gesicht die von Lebendigkeit. Isobel hatte den Eindruck, dass die Brust der Frau sich jeden Moment heben und senken, sie ein-und ausatmen würde.
Die
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