nevermore
saßen. Ganz automatisch setzte Isobel sich neben ihn. Warum fühlte es sich so ungewohnt an, auf dieser Seite des Raumes zu sitzen? Saß sie nicht schon das ganze Jahr über hier?
»Sind wir immer noch mit deinen Eltern zum Essen verabredet? Bei euch zu Hause heute Abend?«, fragte Varen.
Ihr Kopf schnellte zu ihm. Abendessen mit ihren Eltern?
»Ich will deinem Vater noch ein paar Fragen über die University of Kentucky stellen. Ich weiß, dass er wegen des Footballteams dort hingegangen ist, aber wenn ich mich recht erinnere, hat er auch gesagt, dass es dort einen guten Studiengang für englische Literatur gibt, oder?«
»Ja«, antwortete Isobel und glaubte, sich daran zu erinnern, dass er so was in der Richtung gesagt hatte. Ja, das stimmte. Und sie wollten zusammen Lasagne essen. Und hatte Danny sie nicht schon die ganze Woche damit genervt, dass Varen vorbeikommen sollte, um ihm bei dem Spiel zu helfen, bei dem er nicht weiterkam?
»Okay, Kids«, sagte Mr Swanson, »heute ist ein aufregender Tag weil wir Robert Frost und Ezra Pound durchnehmen werden. Das sind zwei meiner Lieblingsschriftsteller. Das bedeutet also dass ihr euch ihre Gedichte in eure formbaren, kleinen Gehirne eingravieren werdet. Da könnt ihr euch sicher sein. Aber macht euch keine Sorgen. Eines Tages werdet ihr mir dafür danken Jetzt blättert vor bis Seite 226 und lasst uns einen Blick auf Der nicht gegangene Weg werfen. Meldet sich jemand freiwillig zum Vorlesen? Emma?«
Emma Jordans Stimme ertönte aus dem hinteren Teil des Klassenzimmers. »Zwei Wege taten auf sich mir im Wald, wie gern ich wollte beide Wege gehn ...«
Isobel blickte wieder zu Varen. Er starrte auf die geöffneten Seiten des vor ihm liegenden Buchs. Sonnenlicht verfing sich in seinem hellen Haar. So hatten sie sich kennengelernt, dachte sie. Am ersten Schultag des Jahres, als er sich neben sie gesetzt und sie gebeten hatte, ihm ihre Nummer auf die Hand zu schreiben, damit er sie nicht verlor. Bei der Erinnerung daran musste Isobel lächeln.
Bei ihrem ersten Date hatte er sie zum Essen in ein schickes chinesisches Restaurant ausgeführt. Und hatte er ihr nicht erst letzte Woche seinen Schulring geschenkt? Isobel sah hinunter auf ihre rechte Hand. Der breite Goldring wurde von einem weichen Filzstreifen eng an ihrem Finger gehalten, mit dem Varen den Ring ausgekleidet hatte, damit er ihr passte. Der blaue Trentonstein in der Mitte funkelte und ließ die Erinnerung an den Augenblick, als Varen sie gebeten hatte, ihn zu tragen, wieder aufleben. Es war an dem Tag gewesen, als sie in seinem Auto vor ihrem Haus gesessen hatten und er sie gefragt hatte, ob sie mit ihm zum Abschlussball gehen wollte.
Draußen zwinkerte ihr die Herbstsonne durch eine flauschige,baumwollweiße Wolkendecke zu. Isobel blickte nach vorne und beobachtete Mr Swanson. Er lehnte an seinem Schreibtisch und hielt das geöffnete Lehrbuch in der Hand. Seine Augen waren geschlossen und er sprach einige besonders wichtige Wörter lautlos mit, während Emma vorlas. So wusste man immer, welche seine Lieblingsstellen waren.
Als Emma mit dem Lesen fertig war, öffnete ihr Englischlehrer die Augen und rückte seine Brille zurecht. »Okay«, sagte er, »dann lasst uns jetzt einmal darüber sprechen, was Mr Frost damit sagen will. Weiß irgendjemand von euch vielleicht, was eine Metapher ist? Ja, Miss Andrews.«
»Er spricht darüber, dass man im Leben verschiedene Wege einschlägt. Und unterschiedliche Entscheidungen trifft.«
»Ja, sehr gut. Das ist definitiv eine Möglichkeit, wie man das Ganze interpretieren kann. Es geht nicht nur um die tatsächliche Entscheidung, einen realen Weg im Wald entlangzugehen, sondern auch darum, dass man an eine Weggabelung auf der Straße des Lebens kommt und eine Entscheidung treffen muss. Wir sind im Wesentlichen das Produkt unserer Entscheidungen, findet ihr nicht? Wenn der Erzähler des Gedichts einen anderen Weg gewählt hätte, wäre bestimmt alles anders für ihn verlaufen, oder? Vielleicht sogar vollkommen anders. Das ist der Unterschied, von dem er hier spricht. Sehr gut. Noch jemand?«
Isobel stellte fest, dass sie ihr Buch noch gar nicht herausgenommen hatte. Sie beugte sich vor, öffnete ihren Rucksack und nahm ihr Englischbuch heraus. Sie schaute zu Varen, um die richtige Seitenzahl herauszufinden, und blätterte dann zu einem Schwarz-Weiß-Porträt von Robert Frost. Als sie sich nach unten beugte, um einen Stift und ihren Schreibblock aus der Tasche zu
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