nevermore
betrachtest du es denn nicht einfach als eine andere Version der Wirklichkeit? Eine bessere Version. Im Ernst, sie ist nicht weniger wahrheitsgetreu als die andere. Vielleicht sogar wahrheitsgetreuer. Sieh es als eine Chance, zu dem Weg zurückzukehren, den du nicht eingeschlagen hast. Nur um zu sehen, wie es wäre, ihn zu gehen. Um zu erleben, wie es wäre, ihn zu gehen.«
»Du bist nicht er.«
»Ach nein?«
Pinfeathers kam näher und Isobel beäugte ihn nervös. Seine Worte sickerten in sie hinein, gruben sich tief in die hintersten Winkel ihrer Gedanken und ließen Zweifel in ihr aufkommen Er blieb in einiger Entfernung stehen und ließ zu, dass sie ihn musterte. Dabei hielt er die Hände hinter dem Rücken verschränkt und das Kinn gesenkt, so als ob er für ein Foto posierte. Isobel starrte ihn ungläubig an und konnte eine gewisse Ähnlichkeit mit Varen nicht abstreiten. Das war ihr zuvor noch nie aufgefallen. Die Übereinstimmung betraf zwar nicht sein Gesicht oder sein Verhalten, sehr wohl aber seine Statur und seine Größe - seine ganze Figur.
Isobel schüttelte den Kopf. Sie weigerte sich zu glauben, dass auch nur der geringste Funken Wahrheit in seinen Worten lag. Sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass dieses Wesen, diese hohlwangige Zombie-Albtraum-Version, eine wie auch immer geartete Verbindung zu Varen hatte. »Diesmal versuchst du nicht, mich hinzuhalten, oder?«, fragte sie ihn. »Sag mir, warum du das hier machst.«
Pinfeathers seufzte und verdrehte die Augen. »Blondinen, immer muss man ihnen alles erklären.«
Isobel funkelte ihn wütend an und ballte die Hände zu Fäusten.
Er lächelte wehmütig. »Siehst du, deshalb mag ich dich. Du gibst nie auf, nicht einmal dann, wenn es eigentlich besser für dich wäre. Wir brauchen ein bisschen von deiner Entschlossenheit, so unnütz sie auch sein mag. Ich glaube, das ist der Grund, Cheerleaderin. Denn die Wahrheit ist, ich will dich nicht umbringen. Nicht, wenn ich es vermeiden kann.«
Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Isobel atmete tief ein und drückte sich mit dem Rücken gegen die Tür. Ihre Hand tastete nach dem nicht existenten Knauf.
»Es liegt ganz bei dir«, sprach er in sanftem Ton weiter. »Ob du mitspielst und noch ein bisschen länger mit mir tanzt.« Er neigte den Kopf zur Seite und blinzelte sie mit seinen pechschwarzen Augen an.
Isobel war schockiert, als sie sah, dass das, was sie darin las, ernst gemeint war - wenn man von ernst im Zusammenhang mit Pinfeathers überhaupt sprechen konnte. Dieser Blick ängstigte sie mehr, als seine Worte es je vermocht hätten. Was schlummerte wohl unter der Oberfläche dieser schaurigen Porzellanhülle? Wenn es keine Seele war, die ihm Leben einhauchte, was dann? Wichtiger noch, was wollte es von ihr?
Er trat einen Schritt auf sie zu und dann noch einen. »Nur lange genug, um zu vergessen.« Sein Gesicht wurde ernst. »Trink«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »oh, trink das freundliche Vergessen.«
Mit ein paar Bewegungen, die viel zu schnell für Isobels Augen abliefen, überwand Pinfeathers die verbleibende Entfernung zwischen ihnen und drückte sie gegen die Tür. Er packte ihr Kinn und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen. Seine Fingernägel bohrten sich in ihre Wangen und drohten ihr das Gesicht zu zerkratzen.
Sie drehte ihren Kopf weg, doch er schlang einen Arm um sie und riss sie zu sich heran. Sein Körper fühlte sich steif und hohl an. Leer. Sein Griff wurde fester, bis ihr fast die Luft wegblieb. Er presste seine Lippen auf ihre.
Isobel riss die Augen weit auf. Sein Mund, glatt, kalt und hart, fühlte sich messerscharf auf ihrem an, wie Glas. Er schmeckte nach Erde und Tinte, nach Blut und nach Tod. Galle stieg ihren Hals hoch und mit ihr ein Schrei.
Lachend rückte Pinfeathers von ihr ab, ließ sie abrupt los und löste sich in Rauchwirbel auf.
Isobel stürzte, stolperte und fiel der Länge nach hin. Der Boden unter ihr gab plötzlich nach. Sie fiel und der Schrei in ihrem Hals entwich. Sie hielt sich die Arme vor das Gesicht, um ihre Augen vor den vielen kantigen smaragdgrünen Glassplittern zu schützen, die in der Dunkelheit um sie herum funkelten und sie zu zerfetzen drohten. Sie fiel und fiel, bis sie schließlich von mehreren Armpaaren aufgefangen wurde. Wie tödliches Konfetti regnete Glas auf sie herab, ein Splitter bohrte sich in ihre Schulter und ein anderer schnitt ihr den Knöchel auf.
Isobel öffnete die Augen und sah, dass maskierte Gestalten
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