Neville, Katherine - Der magische Zirkel
Garten. Josef wußte, daß das Öl, das von ihren Händen tropfte, teurer war als zwei Hände voll Rubine und Gold.
Langsam dämmerte den Gästen, was nun folgen würde. Simon stieß seinen Teller beiseite und wollte vom Tisch aufstehen. Jakob und Johannes Zebedäus hoben die Hand, um Miriam aufzuhalten. Judas war bereits aufgesprungen – aber sie kamen alle zu spät.
Josef hielt die Alabasterdose und schaute verwundert zu, wie Miriam, deren Gesicht in diesem Licht beglückend schön aussah, die flüssige Salbe aus ihren Händen auf den Scheitel des Meisters rinnen ließ, wo sie weiterfloß über sein Gesicht und seinen Hals bis in die Kleider. Es war der traditionelle heilige Ritus, wenn einer zum König gesalbt wurde. Dann kniete sie vor dem Meister nieder. Sie ließ sich von Josef das Salbengefäß reichen, zog dem Meister die Sandalen aus und goß je eine Handvoll des kostbaren Öls über seine nackten Füße. Zum Zeichen vollständiger Unterwerfung und Verehrung warf sie ihr wundervolles Haar über ihr Gesicht und trocknete damit die Füße des Meisters.
Josef war starr vor Schreck wie die anderen auch. Judas fand als erster die Sprache wieder und drückte in abgemilderter Form aus, was alle empfanden: «Wir hätten es verkaufen und mit dem Geld den Armen helfen können!» rief er, zornrot im Gesicht.
Josef wandte sich dem Meister zu, während er versuchte, das alles zu verstehen.
Die Augen des Meisters glänzten im Feuerschein dunkelgrün. Er sah Miriam an, die neben Josef auf dem Boden kniete, als würde er sie nie wiedersehen – als wollte er sich ihre Züge für immer einprägen.
«Warum bist du so besorgt um die Armen, Judas?» sagte der Meister, ohne den Blick von Miriam zu wenden. «Die Armen werdet ihr allezeit bei euch haben, aber mich nicht.»
Wieder schauderte es Josef. Er saß mit dem Gefäß in der Hand neben dem Meister und kam sich vollkommen hilflos vor. Aber der Meister redete ihn an, als hätte er Josefs Gedanken gelesen.
«Miriam wird dir später erklären, was du wissen willst», sagte er leise und fast ohne die Lippen zu bewegen. «Aber zunächst möchte ich, daß du mir ein Tier besorgst, auf dem ich am nächsten Sonntag nach Jerusalem reiten kann.»
«Ich bitte dich, laß von diesem Plan ab», flüsterte Josef. «Er ist gefährlich – und nicht nur das. Was du vorhast, ist schlichtweg ruchlos. Du entweihst die Prophezeiungen. Obwohl ich Miriam liebe, muß ich dich darauf hinweisen, daß kein König der Juden je auf ungeweihtem Boden oder von der Hand einer Frau gesalbt wurde.»
«Ich bin nicht gekommen, um König von Judäa zu sein, lieber Josef. Ich habe ein anderes Königreich – und, wie du gesehen hast, auch eine andere Art und Weise der Salbung. Aber ich habe noch eine weitere Bitte an dich, lieber Josef. Bis zum Pesach-Abendmahl werden viele nach mir suchen. Ich kann dir heute noch nicht sagen, wo wir uns zu diesem Mahl treffen werden – es wäre zu gefährlich. Du mußt zum Tempel kommen und die anderen mitbringen. Dort, in der Nähe des Marktplatzes, wirst du einen Mann mit einem Wasserkrug sehen. Folge ihm.»
«Sind das deine einzigen Anweisungen? Daß wir an einen Ort kommen und einem Unbekannten folgen sollen?» fragte Josef.
«Folge dem Wasserträger», sagte der Meister, «und alles wird geschehen wie geplant.»
Samstag
Es war kurz nach Mitternacht, als es geschah. Kajaphas sollte den Augenblick nie vergessen, als sie kamen, um ihn zu wecken. Er wußte, daß etwas Gefährliches und Aufregendes geschehen würde und daß es das war, worauf er die ganze Zeit gewartet hatte.
Die Tempelpolizei, die den Palast und die Person des Hohenpriesters bewachte, stand vor seiner Kammer und erklärte ihm, daß ein Mann am Palasttor erschienen sei – hier, in einem gesicherten Teil der Stadt, und obwohl schon längst Sperrstunde war. Er sei ein kräftiger, gutaussehender Mann, dunkelhaarig, mit einem zerfurchten Gesicht und hoher Stirn, und er wolle nur mit dem Hohenpriester sprechen, und dies in einer privaten, aber sehr dringenden Angelegenheit. Obwohl er kein Empfehlungsschreiben vorweisen konnte und völlig unangemeldet kam, hatten die Tempelpolizisten gezögert, ihn festzunehmen oder einfach fortzuschicken.
«Und was will er?» fragte Kajaphas, obwohl er tief in seiner Seele wußte, daß jede weitere Frage überflüssig war. Ein Verräter erkennt den anderen, und deshalb hatte Kajaphas diesen Mann vielleicht schon immer gekannt.
Er erhob sich von seinem Lager.
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