Neville, Katherine - Der magische Zirkel
sie voller Stolz fort, «Brote und Soßen, Hühnerbrühe, Lammbraten und die ersten Frühlingsgemüse und Kräuter aus dem Garten. Ich bin seit Tagen mit Kochen beschäftigt! Nachdem der Meister wie gewöhnlich alle, die ihn besuchen kamen, eingeladen hat, mußte ich mehr kochen als geplant. Pesach ist zwar erst nächste Woche, aber dies hier ist ein Dankopfer unserer Familie – nicht nur, weil du, Josef, gesund von der Reise zurück bist, sondern auch für das Wunder, das der Glaube des Meisters erst vor einem Vierteljahr an unserem Lazarus bewirkt hat.»
Marthas Gesicht strahlte vor Liebe und Verehrung für den Meister; sie schien keine Veränderung an ihm zu bemerken. Überrascht sah Josef den Meister an, und tatsächlich war diese seltsame Jenseitigkeit von vorhin verschwunden, und an ihre Stelle war wieder das warme Mitgefühl getreten, das in Josefs Augen weitgehend die große Anhängerschaft erklärte, die der Meister in der kurzen Zeit seiner geistlichen Tätigkeit gewonnen hatte. Der Meister schien die Gabe zu besitzen, jedes dunkle Geheimnis im Herzen der Menschen zu erkennen, aber er konnte auch verzeihen.
Plötzlich stand Miriam vor ihnen. Sie lächelte ihr herzerwärmendes sinnliches Lächeln, mit dem sie wie immer Josefs Gefühle in Aufruhr versetzte.
Das üppige, glänzende Haar hing ihr über die Schultern und verlieh ihr einen Hauch von Mutwilligkeit. Die Älteren – und auch viele Jünger – hielten sie deshalb für ein politisch kostspieliges und unnötig gefährliches Spielzeug im Gefolge des Meisters. Für Josef hatte sie etwas Ursprüngliches an sich, etwas wie eine Naturgewalt. Sie war ähnlich wie Lilith, Adams erste Frau in den ältesten hebräischen Texten – eine reife Frucht, die Leben spendet und nichts versagt.
«Josef von Arimathäa!» rief sie, sobald sie ihn sah, und warf sich in seine Arme. «Wir haben dich alle vermißt, aber ich habe mich am meisten nach dir gesehnt», sagte sie sehr ernst, als sie sich aus seiner Umarmung gelöst hatte und ihn aus ihren großen grauen Augen unter den dichten Wimpern anblickte. «Der Meister und ich haben oft über dich gesprochen. Wenn du hier bist, gibt es nie Zank und Streit oder Jammern und Klagen. Du fegst das alles beiseite, und plötzlich ist alles ganz einfach.»
«Ich wünschte, ich könnte begreifen, was sich seit meiner Abreise verändert hat. Denn etwas hat sich verändert», entgegnete Josef. «Früher hat es nie Streit gegeben.»
«Sicher hat er dir erklärt, daß sich nichts verändert hat, stimmts?» sagte Miriam und sah den Meister vorwurfsvoll an. «Alles ist bestens in Ordnung, hat er das gesagt? Aber so ist es nicht. Er versteckt sich seit Monaten – sogar vor seinen Anhängern. Und alles nur, damit er nächsten Sonntag zum Pesach im Triumph in die Stadt einziehen kann.»
«Du wirst doch jetzt nicht nach Jerusalem gehen», wandte sich Josef erschrocken an den Meister. «So wie die Dinge stehen, halte ich das nicht für klug.»
Der Meister legte einen Arm um Josef und den anderen um Miriam und zog beide an sich, als wären sie seine Kinder.
«Meine Zeit ist gekommen», sagte er. Dann drückte er Josef noch enger an sich und flüsterte ihm ins Ohr: «Bleib bei mir, Josef.»
Gegen Abend brach die Schar der Anhänger auf. Friedlich zogen sie über den Hügel und hinterließen in den Gärten und unter den Obstbäumen einen Blütenteppich.
Als es dunkel wurde, zündeten die Mägde die irdenen Öllampen auf der Terrasse an und servierten ein leichtes Abendessen. Die Zwölf waren da sowie der junge Lazarus, der bleich und matt aussah und den ganzen Tag über kaum gesprochen hatte, sowie einige ältere Frauen und die Schwestern des Hausherrn. Die Mutter des Meisters hatte ausrichten lassen, daß sie leider erst am Ende des Pesach aus Galiläa kommen konnte.
Als der Meister das Dankgebet gesprochen hatte und jeder bei Brot und Suppe ordentlich zulangte, stand Miriam auf und nahm ein schönes, aus Stein gemeißeltes Gefäß in die Hand, das neben ihr auf dem Tisch stand. Sie ging zu Josef, der in der Nähe des Meisters saß, und bat ihn, das Gefäß für sie zu halten. Dann öffnete sie den Deckel und griff mit beiden Händen hinein, während die andern am Tisch verstummten und sie anstarrten, denn sie schien im flackernden Lichtschein zu schweben wie ein Verkündigungsengel oder wie ein Engel am Jüngsten Tag.
Als sie die Hände herausnahm, wehte der überwältigend würzige Duft von indischer Narde über Terrasse und
Weitere Kostenlose Bücher