Neville, Katherine - Der magische Zirkel
was du gesehen hast. Und erzähle ausführlich.» «Es war eines Abends, schon ziemlich spät. Das Abendessen war längst vorbei», begann der Ägypter. «Die meisten Reisenden saßen an Deck und tranken noch ihren rest lichen
Wein. Wir fuhren entlang der Küste von Römisch-Griechenland in der Nähe der Echinades-Inseln. Der Wind hatte sich gelegt, und das Schiff dümpelte in der Nähe der dunkel bewaldeten Umrisse der kamelhöckrigen Paxi-Inseln. Da schallte von dort eine tiefe Stimme über das Wasser; sie rief meinen Namen.»
«Tammuz», murmelte der Kaiser versonnen. «Ja, Herr», antwortete Tammuz. «Beim ersten Mal habe ich
nicht darauf geachtet und nicht sofort erkannt, daß ich es war, der gerufen wurde. Ich mußte ja das Schiff steuern. Aber beim zweiten Mal horchte ich auf, weil mich keine lebende Seele auf diesen kleinen griechischen Inseln kannte. Es kannten ja nicht einmal die Schiffsreisenden meinen Namen. Als mein Name zum dritten Mal gerufen wurde, sahen sich die Reisenden um, denn wir waren das einzige Schiff in diesem Teil des dunklen Meeres. Deshalb nahm ich mich beim dritten Mal zusammen und antwortete der verborgenen Stimme, die mich über das Wasser rief.»
«Und was geschah, als du geantwortet hast?» fragte Tiberius, während er aus dem ersten Morgenlicht in den Schatten rückte, damit die Seeleute und Wachen seine Gedanken nicht lesen könnten, wenn er die Antwort des Ägypters vernahm.
Tammuz sagte: «Die Stimme rief: ‹Tammuz, wenn du an Palodes am Festland vorbeikommst, sag ihnen, der Große Pan ist tot!›»
Tiberius sprang plötzlich auf. Mit seiner hohen Gestalt überragte er alle, und er sah Tammuz scharf an.
«Von welchem Pan sprichst du?»
«Herr, er ist keiner der ägyptischen Götter, in deren Glauben ich erzogen wurde. Als Angehöriger des großen Römischen Reichs will ich mit diesen heidnischen Ideen bestimmt nichts mehr zu tun haben. Aber ich fürchte, ich bin in meinem neu angenommenen Glauben noch nicht genügend geschult. Soviel ich weiß, ist Pan der halbgöttliche Sohn eines Gottes namens Hermes, den wir in Ägypten Thot nennen. Und als Halbgott ist Pan vielleicht für den Tod erreichbar. Hoffentlich ist es keine Gotteslästerung, wenn ich das so sage.»
Für den Tod erreichbar! dachte Tiberius – der größte Gott in Tausenden von Jahren? Was war das für eine absurde Geschichte? Er fuhr sich mit der Hand über das Kinn und setzte sich wieder. Sein Gesicht war maskenhaft starr geblieben. Mit einem Kopfnicken bedeutete er dem Ägypter fortzufahren.
«Die Mitreisenden und die Besatzung waren ebenso erstaunt und verwirrt wie ich», fuhr Tammuz fort. «Wir überlegten, ob ich tun sollte, was die Stimme verlangt hatte, oder ob ich mich lieber nicht darauf einlassen sollte. Ich habe das Problem dann so gelöst, daß wir vorbeifahren und nichts unternehmen wollten, wenn bei Palodes eine Brise wehte. Sollte das Meer jedoch glatt sein und kein Wind wehen, würde ich laut rufen, was mir gesagt worden war. Als wir schließlich vor Palodes Flaute hatten, rief ich hinüber: ‹Der große Pan ist tot!›»
«Und dann?» fragte Tiberius, wobei er sich aus dem Schatten vorbeugte, um dem Steuermann in die Augen zu sehen.
«Vom Festland kam ein Aufschrei», sagte Tammuz. «Viele Stimmen, die weinten und klagten. Herr, es schien, als würde die ganze Küste und das tiefe Innere dahinter über eine schreckliche Familientragödie trauern. Sie schrien, das sei das Ende der Welt, das sei der Tod der göttlichen Ziege!»
Unmöglich! Tiberius hätte beinahe laut aufgeschrien, als er im Geist diese Stimmen hörte. Es war vollkommen verrückt! Der erste Wahrsager hatte Roms Schicksal in der Zeit von Remus und Romulus vorausgesagt – die von Wölfen aufgezogen wurden, was ebenfalls prophezeit worden war. Seit dieser Zeit bis zum jetzigen Augenblick war von keinem mehr auf ein so dunkles Ereignis hingewiesen worden. Tiberius fröstelte trotz der bereits wärmenden Morgensonne.
War diese Ära denn nicht erst der Anfang des Römischen Reiches, das schließlich erst mit Augustus begonnen hatte? Jeder wußte, daß der «sterbliche Gott» nur dem Namen nach ein Gott war, weil Götter unsterblich waren. Man suchte sich einen Ersatz, einen neuen «Gott», um den alten Mythos zu erneuern. Diesmal sollte es ein armer Hirte sein, ein Bauer oder Fischer – jemand, der einen Wagen oder Pflug zog – und nicht einer der größten, ältesten Götter Phrygiens, Griechenlands und Roms. Die große
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