Neville, Katherine - Der magische Zirkel
gesagt hatte. Inzwischen waren immer mehr Leute zusammengelaufen, um zu gaffen und die Frau zu verhöhnen, die sie ihm wie ein Stück Fleisch an einem Haken präsentierten.
Als sie auch nach einiger Zeit nicht aufhörten, ihn zu bedrängen, stand er auf und blickte schweigend in die Runde. Er schaute jedem in die Augen, als wollte er dessen Seele prüfen. Schließlich sagte er:
«Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie.»
Dann setzte er sich wieder hin und zeichnete Figuren in den Staub. Als er nach einer Weile aufblickte, stand die Frau allein vor ihm, und er sagte zu ihr:
«Geh hin und sündige nicht mehr.»
Als Nikodemus, der etwas abseits stand, diese Worte hörte, verstand er, was der Meister eben getan hatte. Er hatte sein Leben riskiert für eine Frau, von der er wußte, daß sie zu Recht angeklagt war, denn er hatte gesagt: «Sündige nicht mehr.» Er hatte jeden, der hier zugegen war, gezwungen, selbst zu urteilen, auch die Frau, denn auch sie mußte erkennen, was er für sie getan hatte.
Als die Frau gegangen war, trat Nikodemus neben den Meister. Er wollte sehen, was er da in den Sand zeichnete. Es war eine Art Knoten, ein sehr komplizierter Knoten, denn man konnte weder Anfang noch Ende erkennen.
Der Meister spürte Nikodemus Anwesenheit. Er stand auf, verwischte mit dem Fuß das Bild, das er gezeichnet hatte, wandte sich um und strebte mit raschen Schritten dem Hof der Geldwechsler innerhalb des Tempelbezirks zu. Nikodemus mußte sich anstrengen, um ihn einzuholen. Dort umringten ihn wieder die Leute, die ihn draußen verhöhnt hatten, und sie beschuldigten ihn, falsche Dinge von sich zu behaupten. Und dann tat er das, was zu dem Gerücht führte, daß er wahnsinnig sein könnte.
Als diese Männer sagten, sie seien die Kinder Abrahams, sie brauchten weder den Meister noch seine Ratschläge und daß ihnen seine Behauptung mißfiele, er sei der Messias und ein Nachkomme Davids, da besaß der Meister die Kühnheit zu sagen, er kenne Abraham persönlich und Abraham habe sich gefreut, als er von der Mission des Meisters hier auf Erden hörte. Sie lachten und sagten, der Meister sei kaum alt genug, um einen Mann zu kennen, der seit ein paar tausend Jahren tot ist. Doch der Meister brachte sie mit einem einzigen Blick zum Schweigen, und dann sagte er, Gott selbst habe sie miteinander bekannt gemacht! Er sagte, er, der Meister, sei Gottes Sohn – das Fleisch Gottes! Aber damit nicht genug. Er sagte auch – und viele hier im Saal waren Zeugen – :
«Ich und mein Vater sind eins. Ehe Abraham ward, bin ich.» Er benutzte den heiligen Namen, um sich selbst zu beschreiben. Es war eine Gotteslästerung, für die einer verdient, ausgepeitscht oder gesteinigt zu werden.
Aber das war nur der Anfang. Erst vor einem Vierteljahr, lang nach dem Fest, wurde der Meister nach Bethanien ins Haus des jungen Lazarus gerufen – er ist der Bruder von Miriam und Martha von Magdali, die zu den engsten Anhängern des Meisters gehören. Der Junge war schwer krank und wollte den Meister sehen, bevor er starb. Aber selbst die Zwölf stimmten überein, daß sich der Meister hier schlecht benommen hatte, denn er weigerte sich, die Familie aufzusuchen, sogar als man ihm sagte, daß ihn die Frauen baten, ihren Bruder zu heilen und vor dem sicheren Tod zu retten. Als er endlich kam, war der Junge schon drei Tage tot. Miriam erklärte ihm, daß der Leichnam bereits verwese und stinke, und sie und ihre Schwester verwehrten dem Meister den Zutritt zum Grab.
Da blieb er vor der Grabhöhle stehen und rief Lazarus – den jungen, toten Lazarus –, bis er ihn geweckt hatte. Lazarus erhob sich aus dem Grab seiner Väter, in Leichentücher gehüllt. Der Meister erweckte ihn von den Toten.
«Großer Gott», flüsterte Josef von Arimathäa, als der Erzähler geendet hatte. Er blickte mit glasigen Augen in die Runde und brachte kein Wort heraus. Was hätte er auch sagen können? Im Gegensatz zu den Sadduzäern, für die der Tod einfach das Ende des Lebens war, lehrten die Pharisäer, daß ein Mensch, der ein gutes Leben geführt hatte, auf ein ewiges Leben im Himmel hoffen konnte. Aber an Auferstehung – daß ein verfaulender Leichnam aus dem Grab zu einem Erdenleben zurückgebracht werden konnte – glaubte niemand. Es war eine entsetzliche Vorstellung.
Viele, die mit Josef an diesem Tisch saßen und seine Bestürzung sahen, versuchten, seinem Blick auszuweichen. Nur der Hohepriester Kajaphas sah sich zu
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