Nibelungen 01 - Der Rabengott
Nimmermehr sagte, sie wolle den Abstieg erst auf der anderen Seite der Berge wagen. Wenn Hagens Orientierungssinn ihn nicht im Stich ließ, dann lag irgendwo dort drüben der Rhein, gar nicht weit von hier. Der Gedanke erfüllte ihn mit dumpfer Panik, aber nur einen Augenblick lang.
»Was habe ich heute nacht noch gesagt?« fragte er unvermittelt.
»Oh, nicht viel«, versicherte sie ihm, eine Spur zu schnell. Wieder überkam ihn Argwohn. Doch dann sagte sie etwas, das sie tatsächlich nur von ihm selbst erfahren haben konnte: »Du hast von deinem Bruder gesprochen, von Dankwart, und davon, daß du zu ihm willst, nach Worms.«
Niemand konnte von Dankwarts Angebot wissen, ihm in die Stadt des Königs zu folgen und sich am Hof zu verdingen, niemand außer Hagen und Dankwart selbst. Hagen hatte es damals abgelehnt, aber seit einigen Monden schon trieb ihn das Schicksal immer näher zum Königshof, als wollte es dafür sorgen, daß er doch noch die richtige Entscheidung traf. Dankwart war Stallmeister des Königs, und er hatte Hagen versichert, auch für ihn eine angemessene Stellung zu finden. Doch welche Stellung war schon einem Söldner angemessen, einem Mann, der freiwillig auf die Ritterwürde verzichtet hatte?
Nimmermehr hatte beide Arme fest um seine Seiten gelegt, damit sie die Zügel besser fassen konnte. Ihre Ellbogen rieben an seinem Kettenhemd. Das mußte weh tun, aber sie erduldete es stumm.
Nach einer Weile erreichten sie ebenen Grund, wahrscheinlich eine Hochebene weit oben in den Bergen. Paladin schnaubte wie ein Mensch, der einen schweren Aufstieg hinter sich gebracht hatte.
»Wobei soll ich dir helfen?« fragte Hagen endlich, als das Mädchen keinerlei Anstalten machte, von sich aus die Sprache darauf zu bringen.
»Ich suche etwas«, erwiderte sie leise, fast als schäme sie sich dafür.
Hagen lachte grimmig auf. »Hoffentlich ist es groß genug, daß ich es bemerke, wenn ich dagegenlaufe.«
»Aber ja doch.« Ohne auf seinen sarkastischen Tonfall einzugehen, nahm sie eine Hand vom Zügel und legte sie auf seinen Oberschenkel, ganz unschuldig, wie er annahm. »Vielleicht kannst du auf dem rechten Auge wieder sehen, bis wir es gefunden haben.«
»Was ist es denn?«
Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Das Herbsthaus.«
»Herbsthaus?« Er überlegte, ob und wann er diesen Begriff schon einmal gehört hatte. »Was ist das?« fragte er schließlich.
»Ein…« Sie lachte plötzlich. »… nun, ein Haus. Ich weiß nicht, wo es steht, aber ich werde es wissen, wenn wir in seiner Nähe sind.«
Sie war ein wenig verdreht im Kopf, kein Zweifel. Vielleicht nicht völlig verrückt, wenn auch alles andere als gewöhnlich. Blieb jedoch die Tatsache, daß sie sein Leben gerettet hatte.
»Wie soll ich dir dabei helfen?« wollte er wissen.
»Du mußt mich beschützen.« Sie erklärte eilig, was sie damit meinte, bevor er abermals auf seine Blindheit anspielen konnte: »So lange sich uns niemand direkt entgegenstellt, wird keiner bemerken, daß du nichts sehen kannst. Jeder wird glauben, ich sei in der Begleitung eines mächtigen Kriegers. Wenn du auch kein Ritter bist, so siehst du doch wenigstens aus wie einer.«
»Vielen Dank«, brummte er dumpf unter seinem Helm.
»Das ist mein Ernst. Keiner wird bemerken, daß ich es bin, die das Pferd lenkt. Alle werden glauben, daß ich hinter dir sitze, weil ich unter deinem Schutz stehe.«
Er fand das reichlich albern, widersprach aber nicht. »Denkst du dabei an jemanden, den du kennst?«
Es war nur ein Verdacht gewesen, aber er traf genau ins Schwarze.
Sie klang merklich kleinlaut, als sie antwortete: »Es gibt da jemanden… Er verfolgt mich.«
»Wer? Und viel wichtiger: Warum?«
»Sein Name ist Morten von Gotenburg.«
»Ein verflossener Liebhaber?«
»Nein.« Sie machte eine lange Pause, bis Hagen schon glaubte, sie wolle gar nichts mehr sagen. Die Erinnerung an den Mann schien ihr weh zu tun. Schließlich aber fuhr sie fort: »Er ist Magier.«
»Magier?« entfuhr es Hagen belustigt. »Ein Kerl mit spitzem Hut und bunten Pulvern, die zischen, wenn man sie anzündet?« Er traute sich zu, eine solche Gestalt sogar blind zu bezwingen.
Ihr Kinn stieß an seinen Rücken, als sie den Kopf schüttelte. »Er nennt sich nicht selbst so. Andere haben ihn einen Magier geschimpft, einen Hexer, Teufelsanbeter – und Schlimmeres.«
»Was will er von dir?«
»Mich vernichten.« Das war es tatsächlich, was sie sagte: vernichten, nicht töten.
»Aus
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