Nibelungen 01 - Der Rabengott
Ein Gleichnis?«
»Morten von Gotenburg ist Das-Buch-das-lebt.«
»Das was?« So albern es auch war: In ihm regte sich plötzlich Besorgnis, eine Unruhe, die er sich selbst nicht erklären konnte.
»Es ist… nicht einfach«, sagte sie stockend.
Sein Tonfall wurde um eine Spur schärfer. »Vielleicht sollten wir unsere närrische Abmachung einen Moment lang vergessen. Wer ist dieser Morten von Gotenburg? Und was hat es mit diesem Buch auf sich?«
»Du hast noch nie davon gehört?«
»Mir ist nicht nach Rätselraten zumute.« Nimmermehr wandte sich zu ihm um. Hagen spürte ihren Atem auf seiner Wange; er fühlte sich kühl an.
»Man erzählt sich, Morten habe einen Pakt mit dem Bösen geschlossen.«
»Das erzählt man sich von vielen.« Er wünschte sich, sie würde die Gerüchte überspringen und endlich zur Sache kommen.
Nimmermehr schien seinen Einwurf überhört zu haben. »Seither trägt er einen langen, weiten Mantel, der seinen ganzen Körper verhüllt. Aber darunter ist er nicht allein! Manche sagen, sie kennen wiederum andere, die Mortens Leib gesehen haben – und das, was darauf lebt .« Sie verstummte für einen Augenblick, als erfülle sie allein die Vorstellung mit Abscheu. »Seine Glieder sind übersät mit winzigen Teufeln, jeder nicht größer als ein Finger. Es sind Dutzende. Sie klettern auf ihm herum wie Ameisen, tagein, tagaus. Mit ihren Krallen ritzen sie Runen und Zeichen in sein Fleisch, bedecken ihn damit von oben bis unten. Es sind Zaubersprüche, sagen die Leute! Immer wieder finden diese Kreaturen verborgene Stellen an seinem Körper, die noch unbeschriftet sind, und überall hinterlassen sie ihre Spuren. Deshalb nennt man ihn Das-Buch-das-lebt. Er ist ein lebendiges Zauberbuch! Die Teufel schreiben und schreiben und schreiben auf ihm… Die Schmerzen haben ihn längst in den Irrsinn getrieben. Er hat Wahnvorstellungen, sieht überall Feinde und Gespenster, obgleich er selbst die Essenz des Bösen in sich trägt.«
Nimmermehr hatte immer schneller gesprochen, hatte die Worte ausgespien, als wäre sie froh, sich ihrer endlich zu entledigen. Sie hatte die Wahrheit – oder das, was sie dafür hielt – schon viel zu lange mit sich herumgetragen.
Hagen dagegen war alles andere als erleichtert. Wenn es stimmte, was sie gesagt hatte, dann war dieser Morten eine viel größerer Gefahr, als er bisher angenommen hatte. Log sie jedoch, so hatte Hagen sich in die Obhut einer Wahnsinnigen begeben. Und er wußte nicht recht, was schlimmer war.
»Du glaubst, in diesem Herbsthaus bist du sicher vor ihm?«
»Völlig sicher.«
»Warum verfolgt er dich?«
»Er hat schon auf viele Jagd gemacht. Eines Tages hörte er, wie ich das, was ich dir eben erzählt habe, zu einem anderen sagte. Seither haßt er mich. Er hat geschworen – vor mir und vor anderen –, daß er nicht ruhen wird, bis er mich für meine Worte bestraft hat.«
»Empfindsam ist er außerdem, wie mir scheint«, bemerkte Hagen.
»Würdest du ihn kennen, würdest auch du ihn ernstnehmen.«
»Ich habe schon mit vielen Verrückten zu tun gehabt. Dein Morten von Gotenburg ist nur einer mehr. Ich habe keine Angst vor ihm.«
»Die anderen konntest du sehen, als du ihnen begegnet bist.«
Er schluckte eine wütende Erwiderung und sagte dann: »Du hast gesagt, du kannst ihn spüren. Wie weit entfernt ist er noch?«
»Nahe, sehr nahe.«
Hagen stemmte sich auf die Beine. »Dann sollten wir weiterreiten.«
»Sagtest du nicht, du bist müde.«
»Nicht müde genug, um mich im Schlaf erschlagen zu lassen.«
Wenig später saßen sie wieder auf Paladins Rücken und setzten ihren Weg fort, der anderen Seite der Berge entgegen.
Hagen horchte auf den Hufschlag des Tieres. Sie ritten immer noch über blanken Stein. »Wie lange dauert es noch bis zum Sonnenaufgang?«
»Ich weiß nicht«, gab Nimmermehr kläglich zurück. »Vielleicht können wir bis dahin den Rhein erreichen.«
Bei der Erwähnung des Flusses fuhr ihm eine schreckliche Kälte in die Glieder. »Weißt du, ob Morten auch bei Nacht reitet?«
»Die Schmerzen lassen ihn ohnehin nicht schlafen.«
»Er schläft nicht? Niemals?«
»Die Runen geben ihm alle Kraft, die er braucht.«
»Vielleicht doch kein so schlechter Handel.«
»Darüber solltest du keine Scherze machen.«
Hagen hatte den Helm am Sattel befestigt; im Dunkeln würde niemand den blinden Blick seiner Augen bemerken. Der kühle Wind, der ihm ins Gesicht schlug, vertrieb seine Müdigkeit ein wenig. Er hoffte, es
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