Nibelungen 01 - Der Rabengott
Stadt gezogen.
Diese hier aber ritten bei Dunkelheit, wenn niemand sie sah. Etwas hatte ihnen den Frohsinn ausgetrieben. Sie scherzten nicht und tanzten nicht und sangen keine Lieder.
Da löste Runold das Rätsel.
Er sagte dumpf: »Der Tod.«
Kapitel 4
agens Ausflug zur Eiche hatte zur Folge, daß er eine weitere Woche im Bett zubringen mußte, eingesperrt in seiner Kammer, warmherzig umsorgt von Tilda, der Amme. Sie brachte ihm heiße Milch mit Honig, Brot und herzhaftes Fleisch und einmal sogar süßes Gebäck, das der Mundschenk für ihn hatte backen lassen. Hagens Vater, Graf Adalmar, kam jeden Abend vorbei, um nach ihm zu schauen, Dankwart sogar noch öfter, nur seine Mutter ließ sich nicht sehen. Wahrscheinlich war sie bei Viggo in der Kapelle und betete Rosenkränze für Hagens Genesung – so ihr überhaupt daran lag.
Im großen und ganzen erging es ihm während dieser Woche nicht schlecht, doch die Tatsache, daß die Tür verriegelt war, grämte ihn zutiefst. Die Aussicht aus dem einzigen Fenster, schmal und hoch wie eine Schießscharte, endete nach wenigen Schritten vor hohen Kiefern, die den Blick auf den Wald, den Fluß und die Klippe versperrten. Und auf den Baum, seinen Baum.
Am Abend des sechsten Tages bat er den Grafen: »Vater, ich würde gerne meine Eiche sehen können. Ich spüre, wie sie nach mir ruft. Ich muß sie sehen.«
Adalmars Gesicht umwölkte sich, denn es gefiel ihm nicht, daß ein Baum solche Macht über seinen Sohn hatte. Trotzdem beriet er sich mit Bärbart darüber und ließ sich von ihm überzeugen, daß alles zum Besten stünde.
Schon am nächsten Morgen wurde Hagen vom Lärm heftiger Axthiebe geweckt. Am Mittag schließlich lagen drei der Bäume gefällt neben dem Burggraben, und die Sicht war endlich frei.
Die Klippe ragte grau und spitz jenseits des Waldstreifens empor, und obenauf stand, wie die Warze auf Tildas Nase, Hagens alte Eiche. Er versuchte, den Spalt zu erkennen, doch die Entfernung war zu groß. Er spürte, daß das Stück Nacht noch immer im Baumstamm festhing, und darin, wie ein Edelstein auf schwarzem Stoff, ein winziger Splitter der Zeit.
Ob die Zeit sich ebenso eingesperrt fühlte wie er selbst in seiner Kammer? Etwas, das so uralt war wie sie, mußte die Gefangenschaft doch tausendmal schlimmer empfinden als er, der er nur ein Kind war und den Geschmack der Freiheit erst seit wenigen Jahren kannte! So seltsam es klang, plötzlich fühlte Hagen Mitleid mit der Zeit, mit jenem einsamen Augenblick, der aus seinem Gefüge gerissen und in einen Baum gesperrt worden war.
Und er fragte sich auch, ob das, was dem Baum und der Nacht und der Zeit angetan worden war, nur um einen kleinen Jungen zu heilen, wirklich richtig gewesen war.
Während er noch hinüber zur Klippe blickte, wurde er mit einemmal einer Bewegung gewahr, unten im Schatten des Waldes, nicht weit entfernt vom Ufer. Das Hochwasser war fast völlig zurückgegangen, der Rhein floß wieder in seinem angestammten Bett, und so verstieß die Gestalt dort unten nicht mehr gegen Adalmars Verbot, als sie sich so nahe am Fluß aufhielt.
Dankwart tat irgend etwas am Fuß einer Buche, unweit der einstigen Hochwassergrenze. Hagen blinzelte, um seinen Bruder besser erkennen zu können. Ja, er täuschte sich nicht: Es war Dankwart, und er grub etwas mit bloßen Händen aus der Erde. Dabei schaute er immer wieder verstohlenen Blickes in die Umgebung. Widerwillig trat Hagen einen Schritt zurück in den Schatten seiner Kammer, damit sein Bruder ihn nicht am Fenster entdeckte. Obwohl er keine Einzelheiten erkennen konnte, so hatte er doch nicht die geringsten Zweifel, was Dankwart dort unten versteckt hatte.
Unbändige Wut überkam ihn. Er spürte, wie sich Hitze in ihm breitmachte, so als setze der Zorn sein Inneres in Brand. Sein eigener Bruder hatte ihn bestohlen!
Starr blickte Hagen den Hang hinab, sah zu, wie Dankwart fündig wurde und ein hellbraunes Bündel zwischen den Wurzelsträngen hervorzog. Er öffnete es und wandte dabei Hagen den Rücken zu, so daß dieser nicht erkennen konnte, was sich darin befand.
Mein Gold! dachte Hagen immer wieder. Dieser Hundsfott hat mein Gold gestohlen!
Die Buche, an deren Fuß Dankwart kniete, war viele Mannslängen vom Baum der Zweiten Geburt entfernt. Doch als jetzt ein Wind aufkam, wandten sich die Äste der Eiche knarrend in Dankwarts Richtung, als wollten sie mit spitzen Zweigen nach ihm greifen.
Dankwart bemerkte es nicht, nahm überhaupt nichts um sich
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