Nibelungen 01 - Der Rabengott
hob eine Augenbraue. »Das hier ist kein Spaß, Junge«, sagte er scharf.
Hagen zuckte zusammen. »Natürlich nicht, Vater.«
»Bärbart hat Viggo aufgetragen, mir eine Nachricht zu übermitteln, einen gutgemeinten Rat.« Der Graf atmete tief durch, als hätte er die Worte noch immer nicht verkraftet. »Bärbart hat gesagt, ich soll dich töten, Hagen!«
Hagen ließ sich gegen die Mauer sinken, schloß die Augen. Schwindel überkam ihn. Er sah wieder das Gold über den Fluß trudeln, sah es versinken in einem grauen Mahlstrom, rund und rund und rund.
»Mich… töten?« brachte er stockend hervor.
»Ja.« Adalmar klang hart, Verbitterung sprach aus seiner Stimme. »Es sei sein letzter Rat an mich, hat er gesagt. Verflucht, kannst du dir das vorstellen?« Jetzt schrie er, daß sogar die Wachen auf dem Flur zusammenfuhren. »Mein engster Berater verlangt von mir, meinen eigenen Sohn zu ermorden!«
Ganz kurz überkam Hagen die Gewißheit, daß sein Vater nur deshalb hier war: um Bärbarts Rat in die Tat umzusetzen. Er würde die beiden Männer hereinwinken, damit sie Hagen erschlugen. Doch der Graf drückte seinen Sohn fest an die breite Brust, fuhr ihm mit der Rechten übers Haar, dann drehte er sich um und verließ die Kammer. Hagen hörte, wie er mit seiner Garde davonstürmte, um Bärbart anderswo zu suchen.
Dabei vergaß er, den Riegel vorzuschieben.
Erst später kam Hagen die Ahnung, daß sein Vater die Tür in voller Absicht offengelassen hatte. Vielleicht hatte er gehofft, Hagen würde fliehen, würde fortgehen aus der Burg, fort aus den Landen derer von Tronje. Was immer Bärbarts Befürchtungen gewesen waren, sie wären damit hinfällig geworden.
Doch Hagen blieb. Zwar trat er aus der Kammer, die drei Wochen lang – mit einer kurzen Unterbrechung – sein Gefängnis gewesen war. Aber er stieg nicht die Treppen hinab, um die Burg zu verlassen. Ganz im Gegenteil: Er lief die Stufen zum höchsten Turm hinauf, die unteren aus Stein, die letzten aus knarrendem Holz. Durch eine Luke kletterte er schließlich ins Freie.
Dankwart hockte vor den Zinnen, die Knie angezogen, den Rücken gegen die Mauer gepreßt. Die Abschürfung unter seinem zerrissenen Hosenbein blutete noch immer, ganz schwach. Er war nicht überrascht. Er sah zu, wie Hagen aus der Falltür stieg und sich vom düsteren Himmel abhob wie ein Riese. Dies hier war immer ihr Lieblingsort gewesen, hier hatten sie gespielt, gelacht, gestritten.
Diesmal stritten sie nicht. Sie lachten auch nicht.
Hagen ließ sich stumm auf der anderen Seite der Zinnenkrone nieder, hockte sich genauso hin wie sein Bruder, und so saßen sie sich gegenüber, zwei Kinder mit den Gedanken von Erwachsenen.
Über ihnen schwebten Wolken dem trüben Horizont entgegen wie riesige Schwärme von Zugvögeln. Weit, weit unter ihnen toste der Fluß.
Als das Schweigen lauter wurde als jeder Wutausbruch, sagte Hagen: »Bärbart hat es so gewollt, nicht wahr?« Er sprach sehr leise, so daß Dankwart die Worte gerade noch verstehen konnte.
»Er kam zu mir.« Dankwarts Gesicht war bleich, als wäre es aus Wolken geformt. »Er sprach über dich, über viele Dinge, auch über das Gold. Er hat mir vom Siebenschläfer erzählt.«
Hagen rieb sich mit den Fingern durch die Augen. »Vom Siebenschläfer?« fragte er verständnislos.
»Das Gold gehörte ihm«, sagte Dankwart. »Du hast es ihm gestohlen.«
»Du hast Bärbart von den Tannen im Wasser erzählt?«
»Ich konnte nicht anders. Ich hatte Angst um dich.«
Hagen blickte seinem Bruder eingehend in die Augen, beobachtete jede seiner Regungen, um festzustellen, ob Dankwart die Wahrheit sagte.
Es gab nicht das geringste Anzeichen einer Lüge.
»Warum hast du mir nicht gesagt, daß du das Gold hast?« fragte Hagen.
»Weil ich es für mich haben wollte, Dummkopf. Warum sonst?«
Hagen blinzelte. »Aber du hast Angst bekommen – nicht um mich, sondern um dich selbst. So war es doch, oder?«
Aus der Tiefe des Burghofs drangen Rufe herauf. Immer noch suchte man nach Bärbart. Offenbar wollte Adalmar nicht glauben, daß sein Berater wirklich fortgegangen war. Möglicherweise fürchtete er auch, Bärbart könnte sich im Schloß verstecken, um Hagen später mit eigener Hand zu töten.
»So einfach war es nicht«, sagte Dankwart. Er erwiderte Hagens stechende Blicke ernsthaft, aber ohne Trotz. »Ich habe Bärbart erzählt, was du erlebt hast. Heute morgen erst. Er wurde aschfahl im Gesicht. Ich habe nie erlebt, daß jemand so
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