Nibelungen 01 - Der Rabengott
ich bemerkte, daß Euer Augenlicht nicht das beste ist.«
Und da verstand Hagen, worauf Runold hinaus wollte.
Aber das konnte doch nicht wirklich sein Ernst sein? Unmöglich.
Und doch war es so.
»Ich beuge mein Haupt vor Wodan, dem Herrn aller Götter«, sagte Runold. »Bitte, Herr, erweist mir die Gnade meiner Familie berichten zu dürfen, daß ihr wieder unter uns Menschen wandelt.«
Der Alte war verrückt, kein Zweifel. Vollkommen wirr im Kopf. Doch wenn das zu Hagens Vorteil war, hatte er nichts daran auszusetzen. Fraglich blieb, ob auch die anderen dieser Wahnvorstellung Glauben schenken würden; wie es schien, hatte er gar keine andere Wahl, als es darauf ankommen zu lassen.
Wodan, Oberhaupt der Götter, der während seiner Wege im Reich der Menschen als einäugiger Krieger umherzieht, gefolgt von seinen Raben, auf jeder Schulter einer. Der Graue Wanderer, der am Abend als ferner Schemen über Hügelkuppen geistert.
Der Gedanke war so abenteuerlich, so durch und durch irrsinnig, daß Hagen sich unter dem Helm ein Lachen verkniff.
Seine Verwirrung aber mehrte sich, als die übrigen Gaukler herankamen – jene, die Runold »meine Familie« genannt hatte. Es war unmöglich, aus dem Getuschel und dem Schlagen der Hufe heraushören, wie viele es waren. Hagen schätzte sie grob auf ein Dutzend, vielleicht ein oder zwei mehr. Sie hatten mindestens einen Pferdewagen dabei.
Zu Hagens Verblüffung glaubten sie Runold jedes Wort. Nicht einer äußerte Zweifel, nicht einer hatte Einwände.
Die Gaukler nahmen Paladin und seinen geheimnisvollen Reiter in ihre Mitte, reichten ihm Fladenbrot und Milch und schienen sich nicht im mindesten über seine offensichtliche Blindheit zu wundern. Schaukelnd setzte sich der Zug in Bewegung, schob sich knirschend und krachend durch die Nacht.
Hagen wurde von der Liebenswürdigkeit seiner Gastgeber überrumpelt und begann schon nach kurzer Zeit, sich in seiner Rolle recht wohl zu fühlen. Er überlegte, was wohl ein Gott in seiner Lage tun würde, um die Menschen bei Laune zu halten, und so beschloß er, ihnen Rätsel aufzugeben.
»Was wird auf der Erde geboren«, fragte er, »und stirbt im Himmel?«
Es gab viele Vermutungen, doch als Runold schließlich die Antwort fand – »Rauch« –, da klatschten die Gaukler begeistert Beifall.
Hagen kam sich albern vor. Nimmermehr, dachte er verzweifelt, wo bist du, wenn ich dich brauche?
Die Gaukler forderten weitere Rätsel, und er stellte ihnen eines, das schwieriger war: »Der Tote begräbt den Lebenden. Wer ist der Tote, wer der Lebende?«
Wieder gab es viele Mutmaßungen, und nach einigem Hin und Her erklärte Runold gelassen: »Asche und Feuer.«
Hagen hatte den Eindruck, als hätte Runold absichtlich die Fehlschläge der anderen abgewartet, damit sein eigener Triumph noch größer war. Wieder jubelten die Gaukler ihrem Anführer zu.
»Nicht schlecht«, sprach Hagen mißmutig. »Hier ist noch eines: Kein Meer ist es und macht doch Wogen, kein Schaf ist es und wird geschoren, kein Schwein ist es und hat doch Stoppeln.« Das war nun beileibe nicht schwer, und Hagen hoffte, daß einer der anderen die richtige Antwort finden würde, bevor Runold sich einmischte.
Viel Gemurmel gab es, viele falsche Ahnungen, dann sagte Runold: »Ein Kornfeld.« Jetzt klang er fast gelangweilt.
Waren denn diese Leute wirklich so schwer von Begriff? Hagen versuchte es ein viertes Mal. »Zwei treffliche Pferde, das eine schwarz wie Pech, das andere hell wie Kristall; sie laufen eilend voreinander her, aber niemals erreicht das eine das andere.«
Murren, Brummen, ein paar dumme Antworten.
Nach einer Weile sagte Runold: »Es sind Tag und Nacht. Das war leicht.«
»Mehr, mehr!« rief jemand. Andere pflichteten bei.
Auch Runold sagte: »Bitte, Herr, stellt mich noch einmal auf die Probe.«
Er sagte »mich«, nicht »uns«.
Hagen zögerte, dann nickte er. »Überlegt gut, denn es ist das letzte Rätsel, das ich Euch aufgeben will.« Er schwieg einen Augenblick, bevor er unheilschwanger fortfuhr: »Was kann der nicht geben, der es hat?«
Keiner sagte etwas, alle taten wohl, als dächten sie nach. Doch Hagen war jetzt sicher, daß der einzige Grund ihres Zögerns ihr Respekt vor Runold war; sie wagten nicht, ihrem Anführer zuvorzukommen.
Ich muß auf der Hut sein, dachte er düster. Und zugleich erinnerte er sich an die Gauklertruppen, die er früher getroffen hatte; sie alle waren am hellichten Tage, unter Tanz und Fanfaren, von Stadt zu
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