Nibelungen 01 - Der Rabengott
hinüber zur Falltür zu tasten. Doch immer noch spülten Brecher über die Planken hinweg, einige stark genug, ihn mit sich über Bord zu reißen. Nein, entschied er bitter, von solch tollkühnem Vorhaben hatte er wahrlich genug.
Die Falltür schlug auf und zu.
Auf und zu.
Der Junge schlief ein.
Einen Augenblick später, noch bevor seine Umklammerung sich lösen konnte, riß ihn ein mörderischer Ruck zurück in die Wirklichkeit. Knirschen, Brechen, Bersten – dieselben Laute hatte er gehört, als sich das Schiff aus der Buche gelöst hatte.
Nun ertönten sie wieder. Als er aufblickte, sah er, daß das Wrack abermals still stand. Erneut bot es seine Längsseite der tobenden Strömung dar.
Diesmal aber hatte es sich fester verkeilt. Das Ostufer war nur noch fünfzehn Schritte entfernt. Weit genug, um bei dem Versuch, hinüberzuschwimmen, zu ertrinken. Zu nahe aber, um alle Hoffnung fahrenzulassen.
Er entdeckte auch, wem er das vorläufige Ende seiner Irrfahrt zu verdanken hatte.
Der Bootsrumpf war seitlich gegen die Wipfel zweier starker Tannen getrieben. Zwar bogen sie sich unter der Last, schienen aber kräftig genug, dem Druck des Schiffes standzuhalten. Beide Bäume ragten kaum bis zum Rand der Reling aus dem Wasser, der Rest war im Fluß versunken.
Die Gedanken des Jungen wirbelten wild in seinem Kopf umher. Er brauchte eine Weile, ehe es ihm gelang, ein wenig Klarheit in sein Denken zu bringen.
Das Boot wippte wieder auf und ab, doch die Strömung schien an dieser Stelle nicht ganz so stark zu sein. Es war durchaus möglich, unbehelligt bis zur Falltür zu kriechen und einen Blick unter Deck zu wagen. Wenn er schon sterben sollte, so wollte er wenigstens erfahren, wofür.
Flach an die glitschigen Planken gepreßt schob er sich auf die Klappe zu. Sie hob sich bei jeder Welle nur noch wenige Fingerbreit, schlug nicht mehr gänzlich auf und zu. Der Junge würde sie selbst öffnen müssen.
Als er nahe genug heran war, streckte er vorsichtig die Hand aus, packte den Griff der Falltür und klappte sie zurück. Darunter lag ein schwarzes, schier bodenloses Loch.
»Ist da wer?« rief er mit schwacher Stimme nach unten. Die Worte klangen hohl im Inneren des Schiffsrumpfes wider.
Niemand antwortete.
Du mußt es tun, redete er sich tapfer zu, deshalb bist du doch hergekommen. Einfach über die Kante kriechen, dich hinunterschwingen – ja, und dann?
Das Boot hob und senkte sich im Rhythmus des Flusses, aber immer noch schienen die beiden Tannenwipfel es fest in seiner Längslage zu halten. Aus der Falltür drang dumpfes Flüstern herauf, das Glucksen der Strömung unter dem Kiel.
Mach schon! sagte er sich ungeduldig. Ein lahmer, widerwilliger Wunsch.
Er legte beide Hände um die Kante der Öffnung, zog sich ächzend heran. Sein Gesicht schob sich über das Loch. Er erwartete, daß ihm etwas entgegenschießen, nach ihm greifen würde, doch nichts dergleichen geschah. Der Laderaum roch muffig, ein wenig wie verfaultes Obst.
Er gab sich einen Ruck, glitt mit einem leisen Aufschrei in die Tiefe und spürte schon einen Augenblick später Holz unter den Füßen. Gleichzeitig wurde das Boot nach oben gewirbelt, senkte sich dann schlagartig wieder. Der Junge verlor sein wackliges Gleichgewicht, fiel zur Seite und rollte quer durch den Laderaum. Fort von dem hellen Viereck aus Mondlicht, das durch die Luke hereinfiel, tiefer hinein in die Finsternis des Bugraums. Seine Schulter prallte gegen die Schiffswand. Erst allmählich dämmerte ihm, daß es in der ganzen Länge des Laderaumes nichts gab, das seinen Sturz hätte aufhalten können. Das Boot war leer, dessen war er nun trotz der Dunkelheit sicher. Keine Menschen, keine Ladung. Wahrscheinlich hatte die Strömung es vom Ufer fortgerissen, als niemand an Bord gewesen war. So einfach war das – und so unspektakulär. Dafür also hatte er mit seinem Leben gespielt. Dafür mochte er bald sterben.
In der Schwärze begann der Junge zu weinen. So saß er dort lange Zeit, verzweifelt, enttäuscht, von Furcht gepeinigt.
Irgendwann wischte er sich die Tränen aus den Augen und krabbelte auf allen vieren zurück zur Falltür. In einem ruhigen Moment gelang es ihm, sich schwankend auf die Füße zu stellen und mit ausgestreckten Armen nach der Kante zu greifen. Er war kräftig genug, sich nach oben zu ziehen. Wasser spritzte ihm entgegen, und einen Moment lang kämpfte er strampelnd um seinen Halt. Dann gelang es ihm, erst ein Knie, dann das zweite aufs Deck zu heben.
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