Nibelungen 02 - Das Drachenlied
den letzten Rest von Licht aussperrten. Rohland, das Pony, litt von allen am meisten, denn es mußte bei seiner Größe die meisten Stiche und Kratzer ertragen. Zudem ängstigte es sich vor all dem Donnern und Blitzen fast zu Tode. Mütterchen hatte ihre dürren Arme um Rohlands Hals gelegt und flüsterte ihm beruhigend ins Ohr. Die anderen aber zweifelten, ob das Tier die Worte bei diesem Lärm überhaupt hören, geschweige denn verstehen konnte.
Die Blitze zuckten immer häufiger, und das Donnern wurde zeitweise so laut, daß sie sich die Ohren zuhielten. Über die Himmelssplitter, die sie durch die Zweige erkennen konnten, zogen riesigen Wolkenburgen, und immer wieder sah es aus, als jagten Wesen hoch oben durch die Dunkelheit. Da waren Formen, die ähnelten Pferden und Reitern, und Löwenzahn murmelte ehrfürchtig:
»Die Wilde Jagd! Es ist die Wilde Jagd! Wodan führt seine Jäger an.«
Sie rückten enger aneinander. Mit göttlicher Willkür war nicht zu scherzen, das wußte ein jeder, und falls es wirklich Wodan war, der seine Jäger im wilden Himmelsritt über die Berge führte, dann war es angebracht, sich zu verstecken.
Plötzlich rief Mütterchen: »Seht doch, dort draußen!«
Zwerg und Riese folgten ihrem ausgestreckten Arm, der hinaus auf den Weg wies.
Eine Gestalt, kaum mehr als eine Silhouette, stemmte sich gebeugt gegen den Sturm. Sie war in einen bodenlangen grauen Mantel gehüllt und hatte eine spitze Kapuze über den Kopf geschlagen. Der Schein eines Blitzes zuckte über das Gesicht des Mannes. Ein schwarzes Band bedeckte sein linkes, blindes Auge. Ein buschiger Halsschmuck aus schwarzen Rabenfedern flatterte lautstark im Wind. Sie alle erbebten bei diesem Anblick.
Es war Wodan, der einäugige Gott, der oberste der Götter selbst, daran konnte es keinen Zweifel geben. Kein Mensch würde bei diesem Sturm seinen Weg fortsetzen, erst recht nicht, wenn die Wilde Jagd über den Himmel zog. Die Rabenfedern taten ein übriges, die Gefährten zu überzeugen, denn Raben waren des Gottes liebste Tiere.
Gebannt sahen sie der Gestalt nach, wie sie mühevoll gegen den Sturm ankämpfte und sich langsam nach Norden bewegte, auf demselben Weg, den auch sie nehmen würden. Wenig später war sie hinter den Bäumen verschwunden.
Der Schreck saß ihnen allen tief in den Knochen. Keiner rührte sich oder sagte ein Wort, bis wenig später der Sturm auf einen Schlag verebbte, und die Wilde Jagd vom Himmel verschwand. Noch immer herrschte Dämmerlicht, diffus und seltsam unwirklich, aber allmählich faßten die Freunde neuen Mut.
Mütterchen war die erste, die hinaus auf den Weg trat. Sie zog Rohland am Zügel mit sich. Das Pony schien höchst erfreut, dem stacheligen Gestrüpp entrinnen zu können, denn es wieherte vergnügt. Alberich war der nächste, der ins Freie kletterte, dann erst folgte Löwenzahn der Grausame. Unsicher blickte er den Weg entlang, ob der finstere Gott auf sie lauerte; doch die Gestalt, so sie denn wirklich dagewesen war, blieb verschwunden.
Mürrisch und wortkarg setzten sie ihren Weg fort. Sie zogen es vor, nicht mehr über die Erscheinung zu sprechen. Die Begegnung mit dem Gott mochte ein böses Omen sein, und sie zurück in ihre Erinnerung zu rufen würde die Sache nur noch schlimmer machen. Am besten war es wohl, den Vorfall gänzlich zu vergessen.
Sie wanderten bis lange nach Sonnenuntergang, dann erst suchten sie sich einen Platz für die Nacht. Diesmal, so entschieden sie, wollten sie nacheinander Wache halten, und die Reihe nahm ihren Anfang bei Alberich. Düster starrte er hinaus in die Dunkelheit, lauschte auf Löwenzahns Schnarchen, beobachtete im Feuerschein Mütterchens Gesicht und fand, daß sie im Schlaf noch älter aussah. Erstaunlich, wie wenig Mühe ihr der lange Marsch bereitete. Alberich war viel länger auf der Welt als sie, aber sie war nur ein Mensch, und dafür geradezu unglaublich rüstig. Er war froh, sie zur Freundin zu haben.
Nach einer Weile weckte er Löwenzahn und legte sich selbst zur Ruhe. Er träumte vom Hort und vom Rabengott, und immer wieder loderten Flammen durch seinen Schlaf. Einmal erwachte er und fragte sich, ob sie das alles nicht zu leichtnahmen. Doch bevor er noch eine Antwort finden konnte, war er abermals eingeschlafen, und am Morgen hatte er seine Zweifel verdrängt.
Am dritten Tag fanden sie den Sterbenden.
Mütterchen sagte gerade: »Mein Vorrat an Pfeifenkraut geht dem Ende entgegen.« Sie hatte viel geraucht, seit sie
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