Nibelungen 02 - Das Drachenlied
Alberich sich über die neuerliche Anrede »Zwergling« erregen konnte, stieß das Pony ein empörtes Schnauben aus. Ob es verstanden hatte, was Löwenzahn gesagt hatte, oder ob es ein Zufall war, blieb ungewiß. Mütterchen zumindest schien sicher zu sein, daß die Bemerkung des Riesen das Tier verärgert hatte, und sie schalt ihn heftig für seine Leichtfertigkeit.
Sie brachen auf und folgten weiterhin dem Weg nach Norden. Schon nach kurzer Zeit schlängelte er sich linker Hand bis ans Ufer heran, so daß auf der einen Seite der Rhein floß, die andere von dunklem Gehölz beschattet wurde.
Alle hingen ihren Gedanken nach, bis Löwenzahn sagte: »Habt ihr je von den Nordmännern gehört, die sich vor dem Kampf ihre Bärte anzünden?«
»Wieso sollte jemand das tun?« fragte Alberich zweifelnd und faßte sich gleich an seinen eigenen Bart. Er war sein ganzer Stolz, über viele Jahrzehnte gehegt und gepflegt.
»Um dem Feind Furcht einzujagen«, erklärte der Riese voller Bewunderung. »Mit brennenden Gesichtern stürmen sie auf ihre Gegner ein, und jeder hält sie für Kreaturen aus Hels schwarzen Schlünden.«
»Du bist ein Hunne und glaubst an Hel?« fragte Mütterchen erstaunt.
»Ich sagte dir doch, meine Mutter war eine Frau wie du, aus diesem Land. Sie zog mich auf, nicht mein Vater, und ihr Glaube ist es, dem ich folge. Keinem anderen, auch nicht dem des Christenheilands. Kein Platz ist in seiner Predigt für Krieger wie uns.«
Dem stimmten alle zu. Nach einer Weile fragte Löwenzahn:
»Sag, Alberich, was hat es mit dieser Tarnkappe auf sich, die dein war? Ich hörte nur, daß sie ihren Träger unsichtbar macht.«
Alberich verzog das Gesicht. Der Gedanke an den Diebstahl schmerzte ihn noch immer. »Sie ist ein Teil der alten Zwergenmagie, aus einer Zeit, als die Zwerge noch ein Volk des Nebels waren. Mit dem Nebel dampften sie am Morgen aus Wiesen und Tälern, und in Nebel vermochten sie sich zu verwandeln, wenn Feinde drohten, oder einfach wenn ihnen danach war. Lange schon hat mein Volk diese Fähigkeit verloren, aber die Tarnkappe stammt noch aus jenen alten Tagen. Sie vermag ihren Träger für die Augen anderer in feinen Dunst zu verwandeln, macht ihn vollkommen unsichtbar.« Er schnaubte zornig. »Und nun fiel sie in die Hände des Xanteners, eines Menschen! Durch meine Schuld, noch dazu!« Er wandte den Blick ab, aus Furcht, die anderen könnten die Tränen sehen, die in seinen Augen blitzten. Seine Niederlage hatte den Verlust eines der größten Schätze des alten Zwergenreiches mit sich gebracht. Verluste wie dieser trugen die Schuld, daß die Erinnerung an die Zwerge mehr und mehr aus der Welt verschwand. Irgendwann würden sie völlig vergessen sein, nichts als ein Schemen in der Geschichte, der Stoff von Legenden und Ammenmärchen.
»Gräme dich nicht«, sagte Mütterchen mitfühlend, reichte Löwenzahn die Zügel des Ponys und legte eine Hand auf Alberichs Schulter. »Es ist nicht deine Schuld, daß der Zauber vergeht.«
Der Zwerg starrte betrübt zu Boden. »Kommende Generationen werden Alberich verspotten als denjenigen, der die Magie der Zwerge an einen Menschen verlor. Und sie werden recht haben mit ihrem Urteil.«
»Nein«, widersprach Mütterchen, »denn eure Magie ist lange schon dahin. Die Tarnkappe war nichts als ein Schatten eurer einstigen Macht. Aber es heißt, hoch oben im Norden ist der alte Zauber noch immer lebendig, in den Tiefen der eisigen Berge, wo dein Volk noch immer so mächtig ist wie früher.«
»Eines Tages werde ich dorthin gehen«, sagte Alberich kummervoll.
»Tu das, mein Freund. Aber erst erfülle deine Pflicht. Hüte den Hort des Nibelung. Und stärke dich mit der Kraft des Drachenblutes.«
Alberich sah zu ihr auf. »Ich danke dir, Freundin Mütterchen. Ich danke dir von tiefstem Herzen.«
Sie lächelte ihn an, und selbst Löwenzahn schwieg und trauerte im stillen. Trauerte um das versunkene Zwergengeschlecht vom Rhein.
Gegen Abend zog ein Gewitter auf. Im Osten über den Bergen erlosch das Licht, nur ein fahles Glimmen lag noch um die Bergkuppen und windgebeugten Wipfel der Wälder. Der Himmel wurde so dunkel, als hätte das Tageslicht ganz unverhofft seine ewige Schlacht gegen das Nachtschwarz verloren. Stürme jagten die Hänge herab und fuhren knirschend ins Gehölz. Das Wasser des Rheins schlug hohe Wogen und wurde weit über das Ufer gepeitscht.
Die Gefährten suchten Schutz im dichten Tann, zwischen stechenden Nadelhölzern, die auch
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