Nibelungen 05 - Das Runenschwert
mich erreichten. Ich beobachtete den Verräter und griff nicht ein, um seine Pläne gänzlich zu erfahren. Wie es aussieht, habe ich zu lange gezögert. Aber zumindest ist er nicht im Besitz des Runenschwertes. Gut, daß du es mitgebracht hast!«
»Woher wißt Ihr das?« wollte Siegfried wissen. Zwar mochte ein guter Beobachter unter seinem Umhang die Umrisse der Waffe erkennen, aber nicht, daß es sich um das magische Schwert der Götter handelte.
»Ich fühle es«, erklärte Vagabundus, während er die Runenstäbe in einen Leinenbeutel strich. »Und die Runen haben es angekündigt.« Er seufzte schwer. »Leider sprechen sie nicht immer eine so deutliche Sprache, sonst ließe sich viel Böses verhindern.«
»Ihr sprecht auch keine deutliche Sprache«, entgegnete Siegfried mit wachsendem Zorn. »Je mehr Ihr erklärt, desto weniger verstehe ich. Von welchem Verräter sprecht Ihr? Und warum soll das Runenschwert meine Wut entfacht haben?«
Die grauen Augen blickten Siegfried eindringlich an. »Ich sehe dir an, daß du es spürst, Siegfried. Tief in dir wachsen die Zweifel. Hast du noch nicht daran gedacht, daß mit dem Runenschwert das Unglück über die Niederlande gekommen ist? Spürst du es nicht, wenn du das Schwert trägst, wenn du es berührst? Fühlst du nicht die böse Macht, die sich deiner bemächtigt, das Gute in dir unterdrückt und das Böse, das Schlechte zum Vorschein holt? Ich meine Haß und Zorn, die Quellen der Zerstörung!«
In den Worten lag viel Wahrheit. Tatsächlich fühlte sich Siegfried unbesiegbar, wenn er das Runenschwert in Händen hielt. So, als könne er es mit der ganzen Welt aufnehmen. Aber war es nicht der Wille Wodans, daß seine Abkömmlinge die mächtigsten Herren wurden?
»Was dachtest du dir nur dabei, das Schwert zu bergen und zusammenzusetzen?« fragte Vagabundus kopfschüttelnd. »Hältst du deinen Vater für einen Narren, daß er das Runenschwert zerbrach? Meinst du, ich hätte es an so unzugänglichen Orten verborgen, wenn ein Knabe es führen sollte?«
»Ich bin kein Knabe mehr!« rief Siegfried zornig.
»Ein Mann hätte überlegter gehandelt«, spottete Vagabundus und schüttelte sein graues Haupt.
Siegfried reagierte blitzschnell. Er warf den Umhang ab, zog das Schwert aus der Scheide und stieß die Klinge vor, gegen den Leib des anderen. Er verspürte große Lust, den Leib seines Gegenüber zu durchbohren.
»Da siehst du, welche Macht das Runenschwert über dich besitzt«, stellte Vagabundus triumphierend fest. »Oder glaubst du wirklich, du hättest eine andere Waffe gegen deinen Oheim erhoben?«
Siegfrieds Rechte zitterte.
Sein Oheim!
Siegfried hatte ihn in Gedanken weiterhin Vagabundus genannt, vielleicht weil es so unglaublich war, daß er Grimbert gegenüberstand. Grimbert dem Verschollenen. Grimbert dem Wunderlichen. Grimbert dem Runenzauberer. Grimbert dem Wanderer. Vagabundus!
Erschrocken darüber, fast den Bruder seiner Mutter getötet zu haben, steckte Siegfried das Schwert zurück in die Scheide. »Es tut mir leid«, flüsterte er.
»Ich hätte eher eingreifen sollen, bevor du das Schwert zusammengeschmiedet und den bösen Zauber neu entfacht hast. Aber ich ahnte nicht, daß das Unheil so rasch über uns kommen würde.«
»Aber warum ein böser Zauber? Reinhold hat mir erzählt, Wodan habe das Runenschwert meinen Ahnen geschenkt, um Gutes damit zu tun.«
»So war es auch, bis jemand auf dem Friesenfeldzug den Zauber ins Böse wendete. Er veränderte die Runen. Dein Vater bemerkte es zu spät, als er schon blutige Schandtaten mit der Klinge verübt hatte. Zum Glück besann er sich und zerstörte das Schwert.«
Siegfried hatte das Gefühl, ein großer Schwindel erfasse ihn und lasse seine Gedanken tanzen. So viele Dinge schienen nicht so zu sein, wie es auf den ersten Blick aussah. »Wenn Ihr soviel wißt, Oheim, erklärt mir doch eins: Weshalb hat Reinhold mir das nicht gesagt, als er mir vom Runenschwert erzählte und mir half, aus dem zerbrochenen Schwert wieder ein ganzes zu machen?«
»Bei Wodan, Donar und der ganzen Götterschar, hast du das wirklich noch nicht begriffen? Hast du dich nicht gefragt, wie Harko wissen konnte, daß du auf der Haselwiese warst?«
»Nein«, gestand Siegfried ein. »So vieles geschah in kurzer Zeit…«
»Dann frage dich jetzt!«
»Einer lügt«, sprach Siegfried laut seine Gedanken aus. »Entweder Ihr, Grimbert, oder Reinhold.«
»Richtig erkannt, mein Sohn. Einer von uns hat dich belogen und betrogen, um
Weitere Kostenlose Bücher