Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin
darüber. Was aber hast du dort zu suchen?«
»Die alte Berenike lebt dort. Ich muß mit ihr sprechen.«
Sogar im Nachtdunkel bemerkte sie, wie er zusammenfuhr. »Die Erzhexe? Du willst freiwillig mit der Erzhexe sprechen?«
»Ja.«
»Niemand weiß, ob sie wirklich existiert.«
»Ich schon.«
»Woher solltest du das wohl wissen?«
»Fang nicht schon wieder damit an.«
»Nein, im Ernst: Woher weißt du, daß sie mehr ist als ein Schreckgespenst, mit dem Mütter ihren Kindern drohen?«
»Ich hab sie gesehen.«
Das verschlug ihm die Sprache, und so setzte sie möglichst gelassen hinzu: »Und ich habe schon einmal mit ihr gesprochen.«
Tatsächlich war die ehrwürdige Berenike vor wenigen Jahren zu Gast im Wormser Königsschloß gewesen – entgegen erheblicher Einwände der Priesterschaft und aller Würdenträger. Berenike selbst hatte Kriemhild erklärt, daß ihr das Bild, das die Menschen von ihr hatten, äußerst genehm sei; denn, so hatte sie kichernd verkündet, auf diese Weise falle niemandem ein, ihren Frieden zu stören.
In der Tat war es so, daß alle Welt es vermied, in die Nähe von Salomes Zopf zu geraten. Selbst die fahrenden Händler, immer auf den schnellsten Weg bedacht, machten einen weiten Bogen um die Berge. Allein der Name der Hexe löste bei den meisten haltloses Grauen aus.
Nach Worms war sie auf Einladung der Königinmutter Ute gekommen, gegen den ausdrücklichen Wunsch Gunthers und seiner Berater. Die meisten hatten Utes Ansinnen nicht allzu ernst genommen, da sie die Hexe ohnehin für eine Legende hielten. Doch den wenigen, die es besser wußten, sträubten sich die Haare bei dem Gedanken, sie in der Nähe der Krone zu wissen.
Aber Ute war eine eigenwillige Frau und ihr Einfluß auf Gunther nicht zu unterschätzen. Auch war sie manch Übersinnlichem sehr zugetan, vor allem aber der Macht der Träume, und Berenike galt als eine, die jeden Traum zu deuten wußte. Utes Wunsch war es, von ihr zu lernen, und sie vertraute darauf, daß nicht einmal die sagenumwobene Erzhexe eine Einladung an den königlichen Hof ausschlagen würde.
Tatsächlich sollte Ute recht behalten. An einem eisigen Wintermorgen, als der Schnee so hoch lag, daß kein Reiter sich ins Freie wagte, stand die Hexe plötzlich vor dem Tor, ganz allein, nur auf einen Stab gebeugt, wie aus dem Nichts erschienen. (Ein Wachmann verfolgte ihre Fußabdrücke im Schnee bis zurück zum Rheinufer, was ein Erscheinen auf magischem Wege widerlegte. Offen blieb allerdings, wie sie ohne Boot die eiskalten Fluten überquert hatte.)
Manche munkelten, Berenike unterhielte in einem unwegsamen Tal von Salomes Zopf eine Hexenschule, wo sie junge Mädchen zu Gespielinnen Beelzebubs heranzog. Das war wohl einer der Hauptgründe, weshalb König Gunther seiner Schwester Kriemhild jedes Gespräch mit der Hexe verboten hatte. Nicht einmal Ute vermochte dagegen Einwände zu erheben.
Natürlich gelang es Kriemhild dennoch, Berenike zu begegnen. Die zahllosen Gerüchte, die durch die Flure des Schlosses geisterten, hatten sie neugierig gemacht. Und so schlich sie in einer Nacht aus ihrer Kammer, um Berenikes Gastgemach aufzusuchen. Als sie eintrat, schien es, als hätte die Erzhexe sie bereits erwartet.
Kriemhild erzählte ihr von einem Traum, den sie gehabt hatte. Darin regnete es Feuer vom Himmel über dem Schloß, und alle Welt lag krank und darbend darnieder.
»Hast du oft solche Träume?« fragte die Alte. Sie trug ein weites Gewand aus schillernden Stoffen, gänzlich formlos, so daß ihr Körper darunter verborgen blieb. Fremdartige Muster waren sichelförmig über ihrer Brust eingestickt. Magische Runen, vermutete Kriemhild und war beeindruckt.
»Ich träume jede Nacht«, gestand Kriemhild. »Oft träumt mir von einem prachtvollen Falken, den ich voller Liebe heranziehe wie mein eigen Fleisch und Blut. Er steigt hoch in den Himmel hinauf und zieht dort seine Kreise. Aber nach einer Weile ist er plötzlich verschwunden, und statt seiner sitzen zwei weiße Adler auf den Spitzen des Münsters und blicken zu mir herab.«
»Haben sie den Falken getötet?«
»Ich weiß es nicht. Es ist, als ob ein Stück des Traumes fehlt. Etwas Wichtiges.«
Berenike lächelte gütig. »Es wird sich finden, glaube mir. Wenn die rechte Zeit gekommen ist, wirst du die Wahrheit über den Falken und die Adler erfahren.«
Kriemhild, die nicht oft über derlei Dinge nachgedacht hatte, zuckte mit den Schultern. »Was aber ist mit meinem anderen
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