Nibelungen 06 - Die Hexenkönigin
verstreut über grüne Hügel, die sich nach Norden, Osten und Süden bis in die schiere Unendlichkeit erstreckten. Die Sonne stand golden über dem westlichen Wipfelmeer und strahlte ihnen grell in den Rücken. Im Osten aber wurde das Abendrot von der Dunkelheit verdrängt.
Sie wanderten weiter bis zum Sonnenuntergang, ohne ein Zeichen des Ritters und seines jungen Begleiters zu entdecken. Der Weg war außerhalb der Wälder in eine schmale Straße übergegangen, die irgendwann einmal gepflastert worden war; das mochte hundert oder mehr Jahre zurückliegen, denn der Boden hatte sich unter den Steinen an einigen Stellen gesenkt, an anderen gehoben. Alles war mit Moos und Gräsern überwuchert.
»Sie müssen neben der Straße reiten«, sagte Jodokus nachdenklich, »wenn sie nicht riskieren wollen, daß sich ihre Pferde die Fesseln brechen.«
Kriemhild nickte, obwohl sie kaum zugehört hatte. Tatsächlich war das weite Grasland rechts und links der Straße für Pferde viel besser geeignet als das löchrige Pflaster. Dies mußte einer der Wege sein, der seit Jahren von Händlern und Bauern gemieden wurde, nur so ließ sich die Verwahrlosung erklären. Offenbar waren sie Salomes Zopf bereits näher gekommen, als sie bislang angenommen hatten.
Freude aber empfand Kriemhild keine darüber. Zum einen wuchs von nun an stetig die Gefahr, Hagen in die Arme zu laufen. Zum anderen aber überkam sie allmählich auch die Ungewißheit dessen, was sie bei Berenike erwarten mochte. Noch immer kannte sie keine Zweifel an ihrem Handeln, war völlig überzeugt vom Versprechen der Alten. Doch sosehr sie auch an das glaubte, was ihr zu tun oblag, sosehr ängstigte sie auch die Vorstellung vom Preis, den sie zahlen sollte.
Von den Unschuldigen verlangt der Christengott stets das größte Opfer, hatte Berenike gesagt. Komm zu mir, wenn es soweit ist.
Bald würde es soweit sein. Salomes Zopf lag irgendwo vor ihnen in der anbrechenden Nacht. Spätestens am nächsten Mittag würden sie das Heim der Erzhexe erreichen. Vorausgesetzt, sie wurden nicht aufgehalten.
»Hast du keine Angst?« fragte Jodokus, als hätte er in ihren Gedanken gestöbert wie in einer fremden Kleiderkiste. Wahrscheinlich war es nicht allzu schwer, ihr anzusehen, was in ihrem Kopf vorging.
Sie zögerte mit einer Antwort –
Und tatsächlich sollte sie nie eine geben. Denn im selben Augenblick schien der abendliche Schatten des nächsten Hügels zu gerinnen, als wollte die Dunkelheit Gestalt annehmen.
Doch was sie im ersten Moment für einen Geist, eine Ausgeburt des Jenseits hielten, erwies sich nur Herzschläge später als Mann in Umhang und Rüstzeug.
Hagen von Tronje trat aus der Finsternis auf sie zu. Als er den Schatten des Hügels verließ, spiegelte sich der rote Abendhimmel auf seinem Helm. Es sah aus, als tanzten Flammen um seinen Schädel.
Jodokus fuhr erschrocken zusammen, aber Kriemhild blieb gefaßt. »Wo sind deine Krähen, Ritter Hagen?« rief sie ihm entgegen. Zwischen ihnen lagen nicht einmal fünfzig Schritte. Er mußte sie schon eine ganze Weile lang beobachtet haben.
»Es sind Raben, Prinzessin, und ich bin kein Ritter. Beides weißt du sehr genau.«
»Verzeiht, wenn mich dein Auftritt verwirrt. Ich habe dich hier nicht erwartet.«
»Auch das entspricht schwerlich der Wahrheit.«
»Du bezichtigst mich der Lüge?« Sie rümpfte empört die Nase, aber sie fand selbst, daß es ein armseliges Schauspiel war.
Hagen kam langsam näher. »Vielleicht gefällt es deinem neuen Freund zu hören, daß ich dich früher in solchen Momenten übers Knie gelegt habe, Prinzessin. Du warst schon immer ein ungezogenes Kind.«
»Ist es das, was du vorhast? Mich übers Knie zu legen?«
»Das steht wohl eher dem König zu. Oder deiner Mutter, die vor Sorge weder ißt noch schläft.«
Seine letzten Worte versetzten Kriemhild einen schmerzhaften Stich. Aber sagte er wirklich die Wahrheit? Hagen war ein Meister der Täuschung.
»Was hast du nun vor?« fragte sie.
»Ich bringe dich zurück nach Worms.«
Noch dreißig Schritte. Hagens Roß, der kleine Junge und Lavendel waren nirgends zu sehen. Wahrscheinlich warteten alle drei hinter dem Hügel.
»Du weißt, daß du mich zwingen mußt, mit dir zu gehen.«
»Es ist der Befehl des Königs, nicht meiner. Ich befolge nur seine Anweisungen. So, wie du es tun solltest.«
Verzweiflung kam in ihr auf, und es kostete sie beinahe all ihre Kraft, sie niederzukämpfen. Sie durfte jetzt nicht aufgeben.
»Wann,
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