Nibelungengold 04 - Die Hexenkönigin
hinabführte. Rund um die Türme zog sich eine Mauer. Zu Kriemhilds Überraschung lag das Anwesen auf einer Klippe, die sich über dem nebelverhangenen Grund der Senke erhob. Darunter war das Waldland gänzlich von grauem Dunst verschleiert, nur hier und da stachen die Wipfel einiger Fichten düster aus den bleichen Schlieren.
Der Weg führte nicht am Talboden durch den Wald, sondern über einen natürlichen Felsendamm, der sich oberhalb des Nebels bis zur Klippe erstreckte. Eine verwunschene Stimmung lag über dem Tal und den beiden Türmen, die es bewachten, doch nicht einmal Jodokus hätte sie als abweisend oder gar feindselig beschreiben können. Der Sänger hatte während seiner Wanderschaft viele Herrschaftssitze gesehen, und dieser hier unterschied sich äußerlich kaum von den übrigen. Und doch schien eine sonderbare Atmosphäre in der Luft zu liegen, beinahe ein Knistern, als wäre das ganze Tal von Magie erfüllt. Am liebsten hätte er Kriemhild ergriffen und sich mit ihr auf dem schnellsten Weg davongemacht. Aber ein Blick in ihr Gesicht genügte, um zu erkennen, daß sie niemals freiwillig umkehren würde. Berenike hatte sie längst in ihren Bann geschlagen, ganz gleich, ob er zauberischer Natur war oder nicht.
»Von jetzt an gehe ich alleine weiter«, sagte Kriemhild, und diesmal verriet ihr Tonfall nur zu deutlich, daß sie Widerspruch nicht dulden würde.
»Wie du meinst«, erwiderte Jodokus betrübt, um dann schnell hinzuzufügen: »Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? Du mußt doch fühlen, daß hier –«
»Versuche nicht, mich umzustimmen.« Und plötzlich sah sie ihm in die Augen und lächelte. »Bitte, Jodokus. Ich bin diesen Weg nicht gegangen, um so kurz vor dem Ziel aufzugeben. Es ist meine Entscheidung, mein Wille, und das solltest du akzeptieren.«
»Du bist eine Prinzessin«, entgegnete er leise, »und du kannst mir befehlen, daß ich –«
»Nein!« widersprach sie, aber es klang sanft, nicht abweisend. »Ich würde dir niemals einen Befehl geben. Du bist mein Freund, oder?«
»Und gerade deshalb meine ich, wir sollten umkehren.«
»Kehre du um. Und warte ein, zwei Tage auf mich, wenn du das wirklich möchtest. Wenn ich dann noch nicht zurück bin …« Sie verstummte und zuckte gelassen mit den Schultern, ohne jede Spur von Traurigkeit. Es war, als verabschiedete sie sich, um in ein Kloster einzutreten; sie löste sich von allem Weltlichen und vertraute sich einer Macht an, die jenseits menschlichen Begreifens lag.
Und vielleicht war es ja genau das, was Jodokus solchen Kummer bereitete. Aber er wußte, es würde keinen Sinn haben, ihr das zu erklären.
Sie verabschiedeten sich sehr förmlich, als sei es ihnen unangenehm, etwas zu überspielen, von dem sie doch beide wußten, daß es da war. Sie küßten sich nicht.
Jodokus nahm Lavendel am Zügel, und der Schimmel hatte einige Mühe, sich in der engen Schneise umzuwenden. Als es ihm endlich gelungen war, verschwand Kriemhild aus Jodokus’ Sicht, und er fragte sich, was sie wohl denken mochte, während sie sich voneinander entfernten.
Wahrscheinlich war sie in Gedanken schon bei der Hexe, und er selbst war längst vergessen.
Jodokus beschäftigte sie, beinahe gegen ihren Willen. Kriemhild wollte sich auf das konzentrieren, was vor ihr lag, auf Berenike und auf ihr weiteres Schicksal. Und doch schob sich das Antlitz des Sängers immer wieder vor ihre Augen, und seine Worte über Götter, den Dichtermet und die grausamen Spiele der Unsterblichen klangen noch lange in ihren Ohren nach. Sie hätte ihn zum Abschied gerne umarmt, hätte ihm gerne gestanden, wie wichtig es für sie war, daß er sie hierher begleitet hatte, doch etwas hatte sie daran gehindert. Sie wünschte sich, es auf Berenike und ihren Einfluß schieben zu können, doch in Wahrheit war es etwas ganz anderes: ihre Erziehung als stolze, unnahbare Schwester eines Königs. Der Fluch, eine Prinzessin zu sein.
Ihre Empfindungen zerrten sie entzwei zwischen Bedauern um den verlorenen Freund und einer ungewohnten Euphorie über Berenikes Nähe. Zum erstenmal gelang es Kriemhild, sich selbst die Frage zu stellen, ob die Hexe tatsächlich einen Zauber über sie gesprochen hatte.
Wiewohl, dieser Augenblick der Klarheit verflog geschwind und mit ihm alle Gedanken an Jodokus. Die Erinnerung an ihn verflüchtigte sich in einen verborgenen Winkel ihrer selbst, und dort mochte sie weiter gedeihen und sich eines Tages erneut bemerkbar machen – oder aber
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