Nibelungengold 04 - Die Hexenkönigin
vollends verkümmern.
Kriemhild wanderte mit weiten Schritten den Pfad hinab. Es war deutlich zu erkennen, daß dies kein Weg war, der häufig benutzt wurde. Tatsächlich war der schmale Einschnitt mit dichtem, unberührtem Gras bewachsen, das keinerlei Spuren von Füßen oder Hufen zeigte.
Endlich erreichte sie jene Stelle im unteren Teil des Abhangs, an der die Bäume zu beiden Seiten zurückblieben und der Weg hinauf auf den schroffen Felsenwall führten, der sich wie ein Band über das dunstige Nebelmeer bis zur Klippe und den beiden Türmen spannte. Aus der Nähe erkannte sie, daß sich hier vor Äonen die Felsen von rechts und links gegeneinander geschoben und dabei einen Aufwurf gebildet hatten. Gewaltige Steinschollen stachen in bizarren Winkeln in die Höhe und bildeten die Flanken des Damms. Manche von ihnen fielen so steil in die Tiefe, daß ein Sturz unweigerlich in den Tod führen mußte; andere Oberflächen hingegen waren derart zerfurcht, daß sich in ihren Spalten und Winkeln Gesträuch und kleine Bäume angesiedelt hatten. Irgendwann einmal mußten hier gewaltige Kräfte die Erde erschüttert haben. Kriemhild erinnerte sich an die verschwundene Straße und fragte sich plötzlich, wie lange diese Erschütterungen tatsächlich zurückliegen mochten; vielleicht nicht gar so lange, wie der Anblick des Felsenkammes einen glauben machte.
Es war ein seltsames Gefühl, dem Hochweg über den Nebel zu folgen, weit über den höchsten Fichtenwipfeln. Der Wind pfiff kühl um Kriemhilds Wangen und erfüllte die Luft mit beständigem Säuseln. Raubvögel schwebten am Himmel, schwarze Sicheln, die auf der Suche nach Beute ihre Kreise zogen. Die Sonne hatte längst ihren höchsten Punkt erklommen, und dennoch wollten sich die Schwaden nicht vom Talboden lösen. Das Licht brach sich in den oberen Schichten des Nebels und erfüllte ihn mit geisterhaftem Leuchten. Der Dunst bildete wundersame Formen, und Kriemhild mußte den Blick abwenden, um nicht Gesichter und Alptraumwesen darin zu erkennen. Aus den Wäldern drang kein Laut herauf, nichts Lebendiges zeigte sich auf dem Weg zum Hexenhort. Allein der Wind blieb unsichtbar an Kriemhilds Seite und schien ihr Botschaften in einer geheimen Sprache zuzuraunen, die niemand außer ihm selbst verstand.
Im Näherkommen entdeckte sie, daß die beiden Türme keineswegs von der Mauer umringt wurden, wie sie von weitem angenommen hatte, sondern vielmehr darin eingelassen waren. Zwischen ihnen gab es ein offenes Tor, halb so hoch wie die Mauer, das ins Innere der Anlage führte. Ein paar Dachfirste, die über die Zinnen hinausragten, ließen auf weitere Gebäude jenseits der Ummauerung schließen. Was aus der Ferne nach einem stattlichen Anwesen ausgesehen hatte, erwies sich nun als regelrechte Festung. Kriemhild fragte sich, ob es teil von Berenikes Schutzzaubern war, daß sich der Anschein des Gemäuers mit jedem Schritt unmerklich zu verändern schien.
Rund fünfzig Schritte trennten sie noch von dem Torbogen, als sich vor ihr, an der rechten Seite des Hochweges, etwas rührte. Kriemhild schrak zurück, wollte sich herumwerfen und fliehen, doch es war bereits zu spät.
Eine Gestalt schob sich zwischen den Rändern der Felsschollen ins Sonnenlicht, gefolgt von einer zweiten. Auch auf der anderen Seite des Weges kletterte flink ein Mann empor, wie die beiden übrigen in Rüstzeug aus Leder und Eisenschuppen gehüllt. Alle drei trugen Stiefel aus glattem Fell, das aussah, als stammte es von Pferden. Einer hatte in sein eigenes pechschwarzes Haar einen langen Roßschwanz eingeflochten, den er vom Hinterkopf über die Schulter bis auf die Brust gelegt hatte. Die Männer trugen fremdartigen Schmuck aus Leder und Tierzähnen und riefen sich Worte zu, die verzerrt und zischelnd klangen.
Am alarmierendsten aber waren ihre Augen; Kriemhild bemerkte sie erst, als zwei der Männer ihre Arme packten. Sie waren geschlitzt und schrägstehend, die Brauen schwarz wie mit Tinte gezogen.
Weitere Gestalten erschienen am Tor und auf den Zinnen. Einige trugen schalenförmige Helme, rundherum mit Fell abgesetzt; obenauf saßen scharfe Eisenspitzen.
Kriemhild konnte schreien und fluchen wie sie wollte, sie trat und drohte mit der Macht des Königs, doch es änderte nichts an ihrer Lage. Als Gefangene wurde sie vor Berenikes Tor geführt, wo ihr ein schlanker Krieger entgegentrat. Er war jünger als die übrigen und trug eine bronzefarbene Rüstung, reichverziert mit sonderbaren Mustern. Um
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