Deutschland umsonst
I
Lange bevor der Wecker schrillt, bin ich wach. Die Sachen liegen gepackt vor dem Fenster. Das schräge Sonnenlicht läßt den Schatten der Birke über den Schreibtisch wandern. Freda schläft noch. Ohne daß sie etwas merkt, steige ich aus dem Bett. Ich dusche, putze mir die Zähne, auf das Rasieren kann ich ab heute verzichten.
Das Pfeifen des Teekessels weckt Freda. Schweigend frühstücken wir. Mit meinen Gedanken bin ich schon unterwegs. An der Tür umarmen wir uns. »Wollen wir uns irgendwo treffen ?« werde ich gefragt. »Mal sehen«, antworte ich ausweichend, um ihr eine Ablehnung zu ersparen. Erleichtert verlasse ich das Haus.
Mein erster Weg führt mich ins Tierasyl. Ein paar Dutzend Hundeaugen hinter Gittern empfangen mich mit flehendem Blick. Wie festgenagelt bleibe ich im Eingang des Zwingerhauses stehen. Einen Augenaufschlag lang rührt sich nichts. Kaltes Neonlicht fällt von der Decke. Es riecht penetrant nach zoologischem Garten. Irgendwo tropft Wasser. Dann, in einem Aufschrei aus Jaulen, Kläffen und Winseln, werfen sich die eingepferchten Tiere gegen den Gitterdraht ihrer Käfige, drehen sich wild im Kreis, hüpfen hysterisch auf der Stelle. Das Tollhaus ist los. Wie soll ich hier bloß meinen Weggefährten finden?
Verschreckt gehe ich von Zwinger zu Zwinger. Bleibe ich vor einer Zelle stehen, beginnt dort sofort ein heftiges Gerangel um meine Gunst, das meist in erbitterten und oft blutigen Beißereien endet. Es gilt das Gesetz des Stärkeren.
Im vorletzten Käfig, fast am Ende des langen Ganges, liegt eine hellbraune Promenadenmischung auf dem nackten Beton in der Ecke und beobachtet scheu das Toben ihrer Mitgefangenen, mit eingezogenem Schwanz und angelegten Ohren, die Stirn in Sorgenfalten und am ganzen Leibe zitternd. Die grüne Kennkarte, die an ihrem Zwinger festgemacht ist, gibt spärlich Auskunft über den furchtsamen Häftling: »Rasse: Boxermischl .; Geschlecht: rd.; Farbe: br.; Alter: etwa ½ J.; Name: unbek.; Heimaufenthalt: seit 1.4.« Handschriftlicher Zusatz: »Mag nicht Autofahren!« — das gibt für mich den Ausschlag.
Zehn Minuten später zerrt mich der scheue Asylhund an einer Schnur als provisorischer Leine ins Freie. Die Nase dicht über dem Pflaster, hetzt er mit mir von Baum zu Baum die Straße hinab, so, als wüßte er ganz genau, wo es langgeht.
Direkt vor den Elbbrücken muß ich erschöpft Rast machen, auf einem Zipfel Grün am Straßenrand; doch der Hund gibt keine Ruhe. Soweit die Leine reicht, beriecht er mit wedelndem Schwanz jeden Grashalm, von oben nach unten, von unten nach oben, verharrt staunend vor der einsamen Gänseblume, nascht ein wenig von einem Haufen Kaninchenköttel. Ein Abenteuer, dieses bißchen Wiese, das erste Stück Flora in seinem Leben. Im Asyl hatte mich die Tierpflegerin gewarnt: »Der war noch nie draußen .« Schon als Welpe hat er im Tierheim Itzehoe »gesessen«, und als er dort nicht zu »vermitteln« gewesen war, brachte man ihn nach Hamburg. Während der »Überführung« war er dann im Auto fast erstickt am eigenen Erbrochenen. Daher auch die besondere Charakterisierung auf seiner grünen Kennkarte.
Bevor es weitergeht auf Hamburgs Ausfallstraßen, taufe ich meinen Hund mit einer Scheibe Dauerwurst auf den Namen Feldmann. So sollen im Sauerland alle Hunde heißen, habe ich mal gehört. Wo aber ist das Sauerland?
Die stählernen Auf- und Abschwünge der Elbbrücken begleiten mich und Feldmann auf einem schmalen Gehweg aus der Stadt. Autokolonnen toben uns dreispurig entgegen. Es ist noch früh am Vormittag, die Leute müssen zur Arbeit. Fahl und matt schiebt sich der Fluß unter uns her. Die flache Morgensonne flackert durch die Eisenträger und hält unseren Schritt exakt mit. Alles scheint in Bewegung. Beim letzten Brückenpfeiler verengt sich der Bürgersteig und endet plötzlich vor einer quer montierten Leitplanke. Kein Schild, kein Hinweis. Für wen auch, wir sind die einzigen Fußgänger weit und breit. Feldmann hockt sich mit seinem Asylzittern auf die Hinterläufe und schaut fragend zu mir hoch, zu mir, seinem Herrn und Alpha-Rüden. Aber ich bin so ratlos wie er. Ich fühle mich wie in eine Falle geraten, weiß nicht weiter, weiß nur zurück, zurück jedoch wollen wir beide nicht.
Auf der gegenüberliegenden Seite der Brücke ist der Gehweg nicht unterbrochen, erkenne ich, dort könnten wir zum anderen Ufer laufen, aber der breite Autostrom versperrt uns den Weg. Erst als sich die stadteinwärts drängenden
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