Nicholas Flame Bd. 1 Der Unsterbliche Alchemyst
zerfielen.
»Josh!«, rief Sophie noch einmal mit vor Verzweiflung ganz hoher Stimme. »Josh! Wo bist du?« Vielleicht waren die Mumien und Skelette zuerst bei ihm gewesen. Vielleicht tauchte er im nächsten Augenblick aus dem Nebel auf – mit leerem Blick und verdrehtem Kopf. Sie schüttelte sich, um die schaurigen Gedanken loszuwerden.
Flamels Hände leuchteten kalt und grün und in der feuchten Luft lag der Geruch nach Minze. Er schnippte mit den Fingern und schickte eine grünlich lodernde Flamme in die Nebelbänke. Sie glühte smaragdgrün und aquamarinblau, doch ansonsten zeigte der Zauber keinerlei Wirkung. Als Nächstes warf Flamel eine kleine grüne Lichtkugel zwei schwankenden Skeletten direkt vor die Füße. Feuer züngelte über sie weg und verbrannte die Reste ihrer Südstaaten-Uniformen. Sie kamen dennoch mit klappernden Knochen näher und hinter ihnen waren hundert weitere.
»Sophie, hol die Hexe! Wir brauchen ihre Hilfe!«
»Aber sie kann uns nicht helfen«, rief Sophie verzweifelt. »Sie hat keine Kraft mehr. Alle Kraft, die sie hatte, hat sie mir gegeben.«
»Alle?«, keuchte Flamel und duckte sich unter einer Faust weg. Er legte die Hand mitten auf den Brustkorb des toten Schlägers und gab ihm einen Schubs. Das Skelett taumelte in die Menge und zerfiel. »Okay, Sophie, dann musst du etwas tun!«
»Was denn?« Was konnte sie gegen eine Armee von Untoten ausrichten? Sie war fünfzehn Jahre alt!
»Egal! Irgendetwas!«
Ein mumifizierter Arm schoss aus dem Nebel und eine Faust traf sie an der Schulter. Es fühlte sich an wie ein Schlag mit einem nassen Handtuch.
Angst, Ekel und Wut verliehen ihr Kräfte. Sie konnte sich zwar an nichts mehr erinnern, was die Hexe ihr beigebracht hatte, doch dafür übernahm jetzt ihre Intuition – oder vielleicht instinktiv auch das von der Hexe vermittelte Wissen. Sophie ließ ihre Wut und Verzweiflung in ihre Aura einfließen. Die leuchtete in reinem Silber auf und plötzlich war die Luft erfüllt von intensivem Vanilleduft. Sophie hielt sich die zur Schale geformte rechte Hand vors Gesicht, blies hinein und schleuderte ihren Atem unter die Toten. Eine zwei Meter hohe Windhose, ein Minitornado sozusagen, wuchs aus dem Boden, saugte die am nächsten stehenden Toten ein und zerrieb ihre Knochen. Die Splitter spuckte er wieder aus. Sophie warf einen zweiten und einen dritten Luftball. Die drei Tornados wirbelten zwischen den Skeletten und Mumien umher und schlugen Schneisen der Verwüstung. Sophie fand heraus, dass sie die Tornados in eine bestimmte Richtung lenken konnte, indem sie einfach nur dorthin schaute. Schon wirbelten sie zu der angepeilten Stelle.
Plötzlich dröhnte Dees Stimme aus dem Nebel. »Gefällt dir meine Armee, Nicholas?« Der Nebel dämpfte den Klang und machte es unmöglich zu sagen, woher die Stimme kam. »Als ich das letzte Mal in Ojai war – es ist schon über hundert Jahre her -, entdeckte ich einen wunderbaren kleinen Friedhof direkt unterhalb der Three Sisters Peaks. Die Stadt, zu der er gehörte, gibt es längst nicht mehr, aber die Gräber samt Inhalt sind geblieben.«
Flamel wehrte sich verbissen gegen schlagende Fäuste, kratzende Fingernägel und tretende Füße. Es war keine echte Kraft hinter den Hieben der Skelette und den Schlägen der Mumien, aber was ihnen an Kraft fehlte, machten sie durch Masse wett. Sie waren einfach zu viele. Unter Flamels rechtem Auge bildete sich ein blauer Fleck und auf seinem Handrücken prangte ein langer Kratzer. Scatty tänzelte um Sophie herum und verteidigte sie, während sie die Tornados dirigierte.
»Ich weiß nicht, wie lange der Friedhof in Betrieb war. Ein paar hundert Jahre bestimmt. Ich habe auch keine Ahnung, wie viele Leichen dort begraben wurden. Ein paar Hundert, vielleicht auch ein paar Tausend. Und ich habe sie alle gerufen, Nicholas!«
»Wo ist er?«, fragte Flamel mit zusammengebissenen Zähnen. »Er muss in der Nähe sein – er muss sogar sehr nah sein, um diese vielen Leichen dirigieren zu können. Ich muss wissen, wo er ist, damit ich etwas gegen ihn unternehmen kann.«
Sophie spürte, wie eine Welle der Erschöpfung sie überkam, und plötzlich knickte einer ihrer Tornados ein und verschwand. Die beiden verbleibenden wankten hin und her – umso stärker, je mehr Sophies Kräfte nachließen. Die Erschöpfung war der Preis dafür, dass sie zaubern konnte, das wurde ihr jetzt klar. Aber sie musste noch eine Weile durchhalten. Sie musste ihren Bruder finden.
»Wir
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