Nicholas Flamel Bd. 4 Der unheimliche Geisterrufer
Aber Moment mal! Hatte Dee nicht eher von einer Kunst als von einem Zweig der Magie gesprochen? Worin lag der Unterschied? Und folgte die Nekromantie bestimmten Regeln? Um sie anwenden zu können, brauchte er seine Aura, was bedeutete, dass sie wahrscheinlich nach denselben grundlegenden Gesetzen ablief wie die anderen Zweige der Magie, die er bereits beherrschte. Bevor er beschloss, jemanden von den Toten zurückzuholen, würde er also sehr genau überlegen müssen, wen. Und wie lange konnte er denjenigen dann am Leben erhalten? Gab es ein Zeitlimit?
»Coatlicue …«
Josh kniff die Augen zusammen. Hinter der Rauchwand war eindeutig eine Gestalt auszumachen, die sich bewegte.
Er würde Leonardo da Vinci zurückholen, von dem es hieß, er sei in Amboise in Frankreich begraben. Und er würde zu gern mit Mark Twain reden, mit Einstein und …
Der braune Rauch kräuselte sich, dann erschienen zwei Hände und bogen ihn wie einen Vorhang auseinander.
Coatlicue erschien.
Und sie war wunderschön.
»Wo ist er?«, schrie Sophie frustriert und einer Panik nahe.
Sie hatten sich über das Treppenhaus nach oben gekämpft. Es waren keine Angestellten in den Büros, nur ein paar uniformierte Wachleute, und die hatten keine Chance gegen Aoifes Nunchakus und Nitens blitzschnelle Fäuste und Füße.
»Wir sind im obersten Stock«, verkündete Niten, als er mit dem Fuß die Panzerglastür durchstieß. Das Schloss klickte, und er trat in einen Raum, bei dem es sich offenbar um Dees privates Büro handelte. Rasch ging er durch das Zimmer und checkte die kurzen Flure, die davon abgingen. »Nichts. Ein Bad, eine Küche, ein kleiner privater Aufzug. Keinerlei Anzeichen dafür, dass Josh hier war.«
Aoife drehte sich zu Sophie um. »Du hast gesagt, er sei hier gewesen. Du hast ihn gespürt.«
Sophie nickte. Ihr Kopf begann zu pochen. Schlimme Kopfschmerzen bauten sich auf.
»Du hast gesagt, er sei oben. Denk nach! Wo ist er jetzt?«
Sophie atmete tief durch und konzentrierte sich auf ihren Bruder. Dann runzelte sie verwirrt die Stirn. »Unten.«
Sie stürmten die Treppe hinunter, Niten vorneweg, und sprangen über die bewusstlosen Wachleute.
»Zwölfter Stock«, rief der Japaner.
Aoife blieb mitten auf dem Treppenabsatz stehen und sah Sophie an. »Wo ist er jetzt?«
Sophie stellte sich das Gesicht ihres Bruders vor – und blinzelte. Zögernd hob sie den Arm und wies mit dem Finger zur Decke. »Das kann gar nicht sein, aber es fühlt sich jetzt wieder so an, als sei er oben.«
Niten grinste und blickte Aoife an. »Geheimes Zwischenstockwerk«, riefen sie wie aus einem Mund.
KAPITEL VIERUNDSECHZIG
J osh konnte den Blick nicht von Coatlicue abwenden. Sie war das eleganteste und schönste Wesen, das er je gesehen hatte. Sie war groß – vielleicht sogar knapp zwei Meter – und sie sah aus, als sei sie gerade von einer Wandmalerei in einem ägyptischen Grab gestiegen. Kohlschwarzes Haar hing ihr wie ein seidiger Vorhang bis auf die Schultern und war über den Brauen in einer geraden Linie abgeschnitten worden. Ein dunkler Lidstrich betonte die schimmernden braunen Augen. Sie hatte kupferfarbene Haut, trug ein schlichtes weißes Gewand und war barfuß. Als sie auf Josh herabblickte, lächelte sie freundlich, und obwohl ihre Lippen sich nicht bewegten, hörte er deutlich ihre Stimme in seinem Kopf. Du hast mich gerufen und ich bin gekommen. Ich bin Coatlicue … Als sie die Hand ausstreckte, fiel ihm sofort auf, dass ihre lackierten Fingernägel ein Schlangenhautmuster aufwiesen.
Ohne nachzudenken machte Josh einen Schritt auf das Wesen zu und streckte ihm die rechte Hand entgegen.
Eine dicke Flammenwand loderte vor Josh auf, sengte sein Haar und die Augenbrauen an und ließ ihn nach hinten taumeln. Er schrie, als er ausrutschte und fiel. Seine Stimme war ganz hoch vor Angst und er hörte Dee brüllen und Virginia kreischen. Er rollte herum und sah durch die flackernden Flammen hindurch seine Schwester in einer offenen Tür auf der anderen Seite des Raumes stehen. Aus ihren Fingerspitzen ringelten sich Flammen.
»Sophie?« Verwirrt und orientierungslos rappelte er sich auf – und stöhnte, als ihm jemand von hinten einen Stoß versetzte, sodass er auf die Flammenwand und auf Coatlicue zustolperte. Er riss die Arme hoch, um sich vor dem Feuer zu schützen. Augenblicklich erloschen die Flammen und er sank zu Coatlicues Füßen auf Hände und Knie.
»Josh!«, schrie Sophie.
Dein Name ist Josh? Nimm meine Hand, Josh.
Ohne
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