Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
dabei waren: Wir schaffen es, wir werden gewinnen. Das war Glück. Glück in einer großen historischen Stunde. Jeder hatte seine Angst besiegt, hatte sich und seine oft so feigen Mitbürger als Teil einer Protestbewegung gesehen. Die meisten hatten unendlich lange zu allem geschwiegen. Jetzt wollten auch sie mitreden, mit dabei sein, endlich mündig sein.
Nie war deutlicher zu spüren, welche Verwandlung Menschen erfahren, die von den Zuschauerrängen auf die Bühne überwechseln. Arbeiter, Handwerker, Studenten und Krankenschwestern, sie alle entdeckten ihre Potenzen und bestimmten ihre Rolle in der Gesellschaft neu. Das »Wir sind das Volk!« hieß für jeden Einzelnen: »Ich bin ein Bürger!« Unglaublich, wie jahrzehntelang eingeübte Demut, wie Furcht und Anpassung abgestreift werden konnten wie ein Kokon, der die weitere Entwicklung zum Erwachsenwerden hinderte.
»Er-Mächtigung«, so erlebt, wird von den Betroffenen nicht nur als ein politischer Begriff verstanden, als Definition eines gesellschaftlichen Prozesses. Ermächtigung drückt mehr aus, ein Lebensgefühl, die Freude eines Menschen, der über sich hinauswächst, Glück.
Es war unglaublich. Wir waren das Volk. Und ich war dabei.
Seit zwanzig Jahren nenne ich dieses Land gern mein Land.
3 Auszug aus Joachim Gauck, »1989 – Das Später kam früher«, in: Hildegard Hamm-Brücher, Norbert Schreiber (Hg.), Demokratie, das sind wir alle, Zabert Sandmann Verlag, München 2009, S. 112–123
Über Deutschland
Weimar, 2. Oktober 1994, Vortrag im Rahmen der Reihe »Weimarer Reden« 4
Frau Ministerin, Herr Oberbürgermeister,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Kirche feiert am ersten Oktobersonntag das Erntedankfest. In Gottesdiensten wird Dank für verdiente und unverdiente Gaben gesagt, und nach alter Sitte spendet man auch etwas. Die Ärmeren geben meist etwas mehr, die Reicheren etwas … überlegter.
Liebe Landsleute aus dem Osten, lassen Sie uns in unserer Erinnerung zurückgehen ins Jahr 1989, in den Sommer, den bleiernen. Die Depression unserer Gemüter, wir haben sie noch nicht vergessen.
Die SED regierte, ohne dass sie führte. Die Festlichkeiten zum Republikgeburtstag wurden wie üblich vorbereitet. Zu allem Unglück stand ein rundes Jubiläum ins Haus. So etwas wird teuer!
Derweil waren Junge und Junggebliebene auf dem Sprung. In den »Bruderländern« suchten sie Schlupflöcher in die Freiheit. Sie waren aktiv und auf uns störende Weise mobil. In vielen Elternhäusern, Freundeskreisen, Gemeinden wurden Abschiedstränen geweint. Bei manchen wuchs endlich die Wut, und sie erreichte ihren Höhepunkt, als die bösen Greise in Berlin den Flüchtenden nachriefen: »Denen weinen wir keine Träne nach.« Ihre Lohnschreiber haben es im Neuen Deutschland flugs aufgeschrieben. Sollten Sie es vergessen haben: Es gibt Bibliotheken, man kann es nachlesen.
Dann kam der 7. Oktober. An solchen Tagen schaltete man schon mal das DDR -Fernsehen ein. Wir wussten zwar, was sich da abspielte, wir kannten das alle: Das Marschieren, das Feiern, die »Winkelemente«, die Blumen, die Orden, »unsere« Jugend, »unsere« Menschen – alles war inszeniert wie immer. Der Regierende hatte für das Fernsehvolk sein Serenissimus-Lächeln aufgesetzt. Wieder waren genügend Landeskinder in Berlin, um den eingeübten Frohsinn vorzuführen. Irgendwann sangen die Veteranen ganz gerührt, einige hatten Tränen in den Augen: »Wir sind die junge Garde / des Proletariats …« Ob sie die »Internationale« auch noch gesungen haben im Kreis immergrüner Vasallen? Ich habe es vergessen.
Am Abend trösteten wir uns mit Gorbatschow. Eigentlich nahmen wir ihm übel, dass er in diese Gesellschaft kam. Aber wenigstens hatte das Westfernsehen einen Satz auf der Straße aufgeschnappt. Sie wissen ja: »Wer zu spät kommt …« Vielen war das nicht genug, mir auch nicht. Aber einige wollten Honecker strafen, indem sie Gorbatschow zujubelten, zuklatschten, ihn feierten. Viele hofften, einige riefen: »Gorbi, hilf!«
Andere waren da schon aufgestanden, um sich selbst zu helfen. Wir meinen jene Minderheit, die zu den inszenierten Feiern mit unbestelltem Protest erschien. »Frauen für den Frieden« – ganz und gar unangeleitet vom Demokratischen Frauenbund Deutschlands, der doch dafür autorisiert war. Eine Initiative, die am Frieden interessiert war, der aber die Menschenrechte genau so viel bedeuteten. Christliche oder andere unangepasste Jugendliche, auch Mitbürger, deren
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