Nicht den Ängsten folgen, den Mut wählen: Denkstationen eines Bürgers (German Edition)
definiert sich nicht durch die negative Abgrenzung vom anderen. Europäische Identität wächst mit dem Miteinander und der Überzeugung der Menschen, die sagen: Wir wollen Teil dieser Gemeinschaft sein, weil wir gemeinsame Werte teilen. Mehr Europa heißt: mehr gelebte und geeinte Vielfalt.
All das, was wir zwischenstaatlich lernen mussten und weiter lernen, um den Frieden zwischen den Völkern zu sichern, haben wir immerfort auch innerhalb unserer Gesellschaft zu lernen, um den Ausgleich zwischen zunehmend Verschiedenen zu erreichen. Wir erleben es tagtäglich: Wir sind auch dann Europa, wenn wir zu Hause bleiben. In Deutschland treffen wir Restaurantbesitzer aus Italien, Krankenpflegerinnen aus Spanien und Fußballspieler aus der Türkei. An den Universitäten und in den Betrieben, an den Bühnen und in den Geschäften arbeiten immer mehr Menschen, die ihre familiären Wurzeln in anderen Ländern haben und die, wenn sie religiös sind, andere Gotteshäuser besuchen als protestantische und katholische Deutsche. Europa ist längst mehr. Vielfalt ist Alltag in der Mitte unserer Gesellschaft geworden.
Sehr geehrte Damen und Herren,
unseren Wertekanon stellen glücklicherweise nur sehr wenige Europäer in Frage. Der institutionelle Rahmen dagegen, den sich Europa bis jetzt gab, wird gerade intensiv diskutiert. Für einige ist die europäische föderale Union die einzige Chance für den Kontinent, andere zielen auf Korrekturen bei den bestehenden Institutionen – etwa die Einführung einer zweiten Kammer oder die Erweiterung der Rechte des Europaparlaments. Manche halten es für ausreichend, den status quo zu wahren, wenn dessen Möglichkeiten denn mit mehr politischem Willen tatsächlich genutzt würden. Und Euroskeptiker würden die europäische Ebene am liebsten reduzieren.
Wir stehen mitten in dieser Diskussion und nicht an ihrem Ende. Und wir werden uns leichter über den institutionellen Rahmen einigen, wenn wir gemeinsam und in aller Ausführlichkeit die grundlegenden Fragen zur Zukunft des europäischen Projekts diskutiert haben.
Notwendige Anpassungen im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich im Euroraum hat die Politik jetzt glücklicherweise unter erheblichem Druck vorgenommen. Wir alle wissen aber, dass Europa vor weiteren Herausforderungen steht. Ich habe eingangs meiner Rede von einer Schwelle gesprochen: Wir halten inne, um uns gedanklich und emotional zu rüsten für den nächsten Schritt, der Neues von uns verlangt.
Einst waren europäische Staaten Großmächte und global playe rs. In der globalisierten Welt von heute mit den großen neuen Schwellenländern kann sich im besten Fall ein vereintes Europa als g lobal player behaupten: Politisch, um substantiell mitentscheiden und weltweit für unsere Werte Freiheit, Menschenwürde und Solidarität eintreten zu können. Wirtschaftlich, um wettbewerbsfähig zu bleiben und so in Europa unsere materielle Sicherheit und damit innergesellschaftlichen Frieden zu sichern.
Bis jetzt ist Europa für diese Rolle zu wenig vorbereitet. Wir brauchen eine weitere innere Vereinheitlichung. Denn ohne gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik kann eine gemeinsame Währung nur schwer überleben. Wir brauchen auch eine weitere Vereinheitlichung unserer Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, um gegen neue Bedrohungen gewappnet zu sein und einheitlich und effektiver auftreten zu können. Wir brauchen auch gemeinsame Konzepte auf ökologischer, gesellschaftspolitischer – Stichwort Migration – und nicht zuletzt demografischer Ebene.
Dies geduldig und umsichtig zu vermitteln ist Aufgabe aller, die sich dem Projekt Europa verbunden fühlen. Unsicherheit und Angst dürfen niemanden in die Hände von Populisten und Nationalisten treiben. Die Leitfrage bei allen Veränderungen sollte daher sein: Wie kann ein demokratisches Europa aussehen, das dem Bürger Ängste nimmt, ihm Gestaltungsmöglichkeiten einräumt, kurz: mit dem er sich identifizieren kann?
Wer meint, eine europäische Vereinigung sei ein Kunstgebilde und unfähig, seine unterschiedlichen Bürgerinnen und Bürger aus bald achtundzwanzig Nationalstaaten zusammenzuführen, der sei daran erinnert, dass auch die Nationalstaaten nichts natürlich Gewachsenes und nichts Ewiges sind und ihre Bürger häufig erst sehr langsam in sie hineinwuchsen. Als 1861 die italienische Einheit geschaffen wurde, erklärte der Schriftsteller und Politiker Massimo D’Azeglio: »Italien haben wir geschaffen, nun müssen
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